Langsam schiebe ich die Vorhänge an meinem Schreibplätzchen zur Seite, um wie jeden Morgen seit ich hier bin, diese Stadt und ihren strahlend blauen Himmel zu begrüßen. Als ich jedoch heute die Vorhänge zur Seite ziehe, zeigt sich mir die Stadt von einer anderen Seite: Dichter grauer Nebel hängt über ihr. Das Hochhaus in der Ferne ist wie ausgebleicht. Es ist als hätte man die Sättigung hinuntergedreht, alles ist mattgrau. Mein Handy klingelt, eine Nachricht scheint auf dem Display auf; „Willkommen im Smog.“ schreibt meine seit Mai in Peking lebende Freundin und sendet mir einen Screenshot ihrer Air Quality App: 152 – Unhealty. Hallo dicke Luft!
Macht nichts, denke ich mir, und schwinge mich wie jeden Morgen aufs Rad. Alles ist gleich – der hupende Verkehr, die Radkolonen, die blinkenden Restaurants – nur eben alles ein bisschen grauer als gestern. Das stört mich heute nicht weiter, denn auf dem Plan steht ein Kochkurs bei Chao, in der Beijing Cooking School. Nahe der Deng Cao Hutong stelle ich mein Rad ab und suche die versteckte Nummer 35. Ich läute an der roten, unscheinbaren Tür. Keine zwei Minuten später öffnet mir Chao und strahlt mich an. „Hello, come in!“ Ich habe den „Noodles“-Kurs gebucht, genauso wie ein Paar aus Neuseeland, welches sich nur mit Fahrer durch Peking chauffieren lässt, ein Australier, der früher in Indien gelebt hat und drei Japanerinnen, die aussehen als würden sie sowieso nie etwas essen, geschweige denn kochen. Chao führt mich durch zwei kleine Innenhöfe, die ziemlich heruntergekommen aussehen, als wir plötzlich in seinem Ein-Raum-Kochstudio stehen. „Take a seat“, grinst er und deutet auf den langen Tisch, an dem wir heute Nudeln herstellen werden, „i wanna tell you something before we go shopping.“ Nach 10 Minuten weiß ich alles über die verschiedenen Arten von Soja Saucen, Reiswein Essig und Reiswein und wozu man sie verwendet. „Now shopping!“, ruft Chao und holt seinen Einkaufszettel hervor, auf dem viele chinesische Zeichen einen großen Einkauf versprechen.
Drei Gassen weiter marschieren wir in eine überdachte Halle: Auf der rechten Seite türmen sich Berge an handballgroßen Melanzani, knallgrünen Paprika, Gurken, Frühlingszwiebel, Kartoffeln, die so groß sind wie ein Babykopf. Neben mir steht Chao und quasselt auf chinesisch mit der alten Frau am Marktstand. Er lässt sich gerade Pilze eintüten, die wir für unsere Nudelsaucen brauchen. „All local farmers“, murmelt mir Chao von der Seite zu. „They are from the south“, deutet er zum Bananenstand. Ich biege um die Ecke als mir plötzlich etwas gräuliches entgegenspringt und vor meinen Füßen landet. Ich blicke verwirrt vor meine Schuhe: Ein zappelnder, durchsichtig-grauer Shrimp liegt am Boden. Sein Fluchtversuch aus der roten Box, in der seine Freunde, Verwandten oder Bekannten liegen, ist wohl fehlgeschlagen. Im Obergeschoss zeigt uns Chao das Fleischangebot: Als ich an einem Sessel vorbeikomme über dem ein riesiges Stück Fleisch in Richtung Boden hängt, hoffe ich inständig, dass Chao das Fleisch für unsere Speisen nicht hier besorgt hat. Überall am Boden sind Blutspuren. Neben mir am Stand wird gerade ein Huhn zerlegt. Es ist schwarz. „Yes, it’s a black chicken!“ bestätigt Chao meinen fragenden Blick. „Oh, and: wanna see the eggs?“, strahlt er und winkt mich weiter. „Look!“ Er deutet auf ein dunkles, aufgeschlagenes Ei, dessen Eigelb ganz durchsichtig braun und der Dotter mit einer fast pelzig grünen Schicht überzogen ist. Mein europäischer Magen sagt mir, dass ich das wohl lieber nicht probieren sollte.
Mit einem vollen Einkaufskorb marschieren wir wieder in die Cooking School. Es ist bereits 11 Uhr und ich merke wie nicht nur mein Magen zu knurren beginnt. „Let’s cook“, meint Chao und stellt einen Sack Mehl auf den Tisch. Ich nehme einen Schöpfer Mehl aus dem Sack, füge einen Becher Wasser und Salz hinzu und beginne mit den chinesischen Stäbchen zu verquirlen, bis der Teig zu kleben anfängt. Dann tausche ich die Stäbchen gegen die Hände. Chao zeigt mir, wie ich den Teig am besten weich knete. Nach 5 Minuten ist er fertig und tippt auf meinen Teigklumpen. „Way to go“, grinst er vor sich hin. Ich knete, drücke, quetsche – und gefühlte 30 Minuten später ist auch mein Nudelteig „leady“. „We do cat ears“, sagt der etwas bauchige, junge Chinese, und reicht mir einen Kamm. Mein fragender Blick scheint ihn wieder zu belustigen und er meint „I’ll show you!“ Gekonnt rollte er den Teig zu dünnen Schlangen, schneidet diese in kleine Stücke und rollt sie über den Kamm. Jetzt lache ich: Also daher die „cat ears“. Für die Bandnudeln brauchen wir außerdem noch eine Sauce aus Karotten und Rindfleisch. Dazu nimmt Chao eine Karotte zur Hand und eine Gemüsehobel. „You know that?“, fragt er in die Runde. Die Neuseeländer nicken, der Australier nickt, ich nicke – nur die Japanerinnen schauen verwundert und schütteln den Kopf. Ich schmunzle in mich hinein, war meine Vermutung was das kochen angeht zumindest richtig. „Where can we buy this?“ fragt die dünnste der drei Frauen. „At the Supermarket“, meint Chao. „Aaaaaaah, at the supermarket!“, wiederholen die drei Japanerinnen im Einklang. Als ihnen Chao auf diese Frage hin den Hobel reicht sieht man die Angst in ihren Augen. Langsam beginnt die zarte Hand die Karotte auf der silbernen Hobel auf und ab zu bewegen. Sie wird schneller. Ihre Augen funkeln. Die Karotte ist weg. Ich klatsche in die Hände, während Chao fröhlich ruft: „Well done!“ Die Japanerin grinst mich an! Ich wette ihr nächster Kauf wird eine Gemüsehobel.
Der Smog ist stärker geworden, als ich die Hutong gesättigt verlasse. Trotzdem möchte ich noch auf den Kohlehügel und in den Beihai Park um ein bisschen Ruhe zu genießen und spazieren zu gehen. Beim Jingshan Park, der auch Kohlehügel genannt wird, sitze ich mit Blick über die ockerfarbenen Dächer der verbotenen Stadt. Ich sehe wie der Smog über mir immer dichter wird. Das Ende der „Hidden City“ versinkt bereits im Grau. Beim Verlassen des Parks bleibe ich bei einer Gruppe Senioren stehen, die hier ihre Tische aufgebaut haben, um gemeinsam Karten zu spielen. Im Beihai Park, nur ein paar Meter weiter, spaziere ich den See entlang als ich plötzlich Musik höre. Sie kommt aus der Richtung der 5 farbenfrohen chinesischen Pavillions, die hier nebeneinander im Wasser stehen. Im Hintergrund fahren Boote vorbei und die weiße Pagode auf der Jadeinsel verschwimmt mit dem grauen Smog. Die Musik wird lauter. Vor mir tanzen alte, chinesische Pärchen zur, aus einer kleinen Box kommenden, Musik. Ein grauhaariger Mann im schwarzen Hemd streckt die Hand weit von sich, während er seine Dame herumwirbelt. Ein anderes altes Pärchen sitzt am Pavillionrand und macht gerade eine Pause. Der Mann wischt sich mit einem Handtuch über die feuchte Stirn und greift gleich danach wieder nach der Hand seiner Frau, um sie auf die Tanzfläche zu drehen. Mein Herz tanzt mit.
Es ist 18 Uhr und wir spazieren in Richtung Arbeiterstadion. Heute Abend spielt die Fußballmannschaft Pekings gegen eine nordchinesische Mannschaft. Ein Punkt trennt die beiden Mannschaften in der chinesischen Liga. Ein spannendes Match soll es sein. Als universell einsetzbare Fans sind wir ein Bier und einen Fanschal später durch die 3 Securitychecks durch und sitzen auf unseren Plätzen auf der Tribüne. Auf der Seite des Heimtors werden bereits große grüne Fahnen geschwänkt, während auf der anderen Seite ein kleines, durch sitzende Polizisten begrenztes, rotes Menschenquadrat zu sehen ist. Vor mir auf dem Spielfeld laufen die Mannschaften ein. Drei in schwarz gekleidete Chinesen halten ein rotes, ca. 1,5 Meter langes Band. Ich frage mich wozu dieses da ist. Als die Mannschaft am Feld ist, läuft der erste und der zweite Chinese los und das rote Band zieht sich aus, bis es sich plötzlich von der einen Trainerkabine zur anderen zieht. Dort stehen sie dann, mit unnatürlich durchgestrecktem Rücken, und blicken für 2 Minuten gerade aus, bis sie das Band wieder in der selben Vorgehensweise einrollen und im Mittelgang verschwinden. Ich denke an die menschlichen Parkuhren, die an jeder Straßenecke stehen oder lungern und die beim Austeigen die Ankunftszeit notieren und beim Einstiegen Geld kassieren. Oder die 3 Parkticket-Abreißer, die dafür da sind, dir dein Ticket aus der Hand zu nehmen, in den dafür vorgefertigen Scannschlitz zu stecken und es dir wieder zurück zu geben. Lennarts Worte kommen mir in den Sinn: „Wir haben hier in China Vollbeschäftigung.“
Es fällt ein Tor – und ich habe nicht aufgepasst. Keine Chance etwas nachzusehen, denn obwohl es eine riesen Leinwand gibt, gibt es hier weder eine Kamerawiederholung noch wird auf der Leinwand die Restspielzeit angezeigt. Ich klatsche als plötzlich alle um mich herum laut „Üüüüüü“ rufen. Das ganze Station „büüüüüüht“ – bis auf das rote Fanquadrat. Dort wird mit roten Klatsch-stangen getrommelt. Der gegnerische Angriff geht am Tor vorbei. Der Fan hinter mir wirft erbost die Arme in die Höhe und gröllt. So sehen chinesische Fußballfans also aus wenn die gegnerische Mannschaft am Zug ist. Das Match endet 3:0 für Peking.
Als wir auf dem Nachhauseweg sind, ist es bereits dunkel. Wir halten an einer großen Kreuzung. Neben mir steht eine alte Frau an ihrer fahrbaren Dreirad-Küche und schmiert eine braune Sauce auf eine dünne Flade. Plötzlich: ein Schrei hinter mir. Dann geht alles ganz schnell: die Straßenverkäuferin und ihre 3 Kolleginnen die ebenfalls um mich herumstehen, springen in ihre motorisierten Küchen und steigen aufs Gas, was soviel heißt wie, sie fahren mit maximal 30 km/h bei rot über die 6 spurige Kreuzung. Ich drehe mich verwundert um, als plötzlich der Grund für den Tumult neben mir auftaucht: ein Polizeiauto biegt mit Blaulicht in die Kreuzung ein. Es wird grün und ich steige auf mein Rad. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen die drei Köchinnen schon wieder an ihren Garküchen und lachen. Die Flade ist jetzt goldbraun und bereits gefüllt. So viel Mut gehört belohnt. Ich steige vom Rad und kaufe mir mein Abendessen.
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4urday says
Das etwas andere Erlebnis mit einem solchen Markt hatte ich damals auch =D
Liebe Grüße,
Hannah