Ich drücke die Stockwerktaste 4 in Hamids Apartmentkomplex. Während ich im Aufzug stehe, höre ich die vertraute Musik. Das Ankommen in Hamids Wohnung fühlt sich fast schon wie ein Nachhausekommen an, denke ich mir, als ich die offene Wohnungstür sehe. Noch bevor ich klopfen kann, steckt mir Hamid, mein Host aus Teheran, den Kopf entgegen. Im Vorraum liegen Schlafsäcke, eine Kühlbox und ein Rucksack. Ich lege meinen Rucksack ab, der nach einer Stunde U-Bahn Fahrt mit mir verwachsen zu sein scheint und blicke mich im iranischen Zweitzuhause um. Es ist spannend, wie schnell man sich an etwas gewöhnt und wie schnell man Gewohntes vergessen kann. „Ready?“, reißt mich Hamid aus meinen Gedanken. „When you are!“, antworte ich und wir grinsen. Auf geht’s in den Norden.
Verbindungsabbruch.
Als wir ankommen, ist es 22 Uhr. Ich habe während der Fahrt geschlafen. Das frühe Aufstehen, der Flug mit den technischen Problemen und der vielen Verspätung haben mich müde gemacht. Nur einmal hat mich Hamid aufgeweckt um mir den dichten Nebel zu zeigen, der für die Nähe der iranischen Berge typisch ist. Als ich zum zweiten Mal die Augen öffne, fahren wir über eine abgelegene Straße, um uns herum nur Wald. Keine Straßenlaternen. Nichts. Ein kleiner Schakal quert die Straße. Ich schaue auf mein Handy. Im rechten Eck bleibt der Empfangsbalken leer. Es ist das erste Mal, dass ich keinen Kontakt zu meiner Familie, meinen Freunden, meinem Nomanden-Mann haben kann. Plötzlich sind da tausend Steine in meinem Bauch.
Ein Haus voll Fremder.
Als wir das Haus erreichen, dass sich Hamids Freunde gemietet haben, werden wir schon erwartet. Ich schleppe meinen Rucksack in das volle Wohnzimmer und schüttle zahlreiche Hände von wildfremden Menschen. Sie alle grinsen mich freundlich an. Sie sitzen in jeder Ecke, am Sofa, am Boden, plaudern. Zwei Frauen stehen in der kleinen, offenen Küche am Herd und rühren in einem Topf. Ich lasse mich auf den Boden sinken und nehme zur Ablenkung mein Notizbuch zur Hand. Hamid hat sich zu drei Männern gesetzt. Sie spielen Backgammon. Zwei kleine Buben liegen auf Pölstern vor dem Fernseher. Es läuft Tom & Jerry. Als einer der Männer das vor dem Haus gegrillte Essen auf den kleinen Tisch stellt, sammeln sich alle. Jeder greift zu. Chips mit Dip, Hühnerflügel, Grillkäse. Hamid grinst mich an und hält mir eine Wasserflasche entgegen: „Water?“, fragt er mich und ich bemerke das Glitzern in seinen Augen nicht. „Sure!“, sage ich und wunder mich auch nicht, warum er mir so wenig in meinen Plastikbecher leert. Als ich einen großen Schluck nehme spüre ich, wie mir der brennende Alkohol die Tränen in die Augen treibt. Der Vodka wird in die Runde gereicht und je leerer die Flasche wird, desto lauter werden die Stimmen. „Pssst!“, raunt Sanaz in die Runde. Es ist das einzige Wort seit Stunden, das ich verstehe. Kurz wird es leiser und sie beugt sich zu mir: „The neighbours are really religious and what we do is not allowed.“ Sie blickt aus dem Fenster. Und erstmals spüre ich die Angst, mit der diese Menschen tagtäglich leben.
Schullandwoche auf iranisch.
Es ist spät. Der Vodka hat Flecken auf dem Teppich hinterlassen, auf dem jetzt ein Matratzenlager erreichtet worden ist. Überall liegen Decken und Pölster. Die KInder sind schon vor Stunden eingeschlafen, aber ihre Eltern plaudern und lachen noch immer. Hamid hat mir den Schlafsack zu meinen Füßen gelegt. „In case it is too loud for you, you can sleep outside!“ Einer seiner Freunde hat es sich bereits auf der schmalen Terrasse bequem gemacht. Ich lächle Hamid an und versichere, dass es hier ok ist . Ich werfe eine Decke über mich, ziehe mir die Kapuze meiner Weste über den Kopf und stecke mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren. FM4 Sound Selection. Ich denke an meine Tante, die mir den iPod geborgt hat. An meinen besten Freund, der mir den iPod bespielt hat. Ich drücke meinen Kopf in den Polster. Ich denke an meinen Nomaden-Mann, auf dessen Schulter ich am besten einschlafe. Ich denke an meine Familie zuhause. Im dunkeln greife ich nach meinem Handy und blicke auf das Display. „Nur Notrufe“. Ich öffne eine SMS und beginne zu schreiben, auch wenn ich weiß, dass nichts davon ankommen wird.
Familienbesuch.
Am nächsten Morgen wache ich auf, als mir Sanaz die Decke über die Schultern zieht, um mich zuzudecken, wie eine Mama ihr Kind. Ich öffne die Augen. Die Musik läuft noch immer. Als ich die Decken aufräume, sehe ich, dass ich meine Nacht doch mit einer Familie verbracht habe: Eine große Spinne und ihre zahlreichen Spinnenbabies krabbeln unter meiner Decke. Hamid startet eine Spinnenrettungsaktion. Ich widerstehe dem Drang duschen zu gehen, um mir mögliche Spinnenbabies abzuwaschen nur, weil es seit heute morgen kein fließendes Wasser mehr gibt. Nach einer Katzenwäsche ist das Matratzenlager wieder ein Esszimmer und das Frühstück steht bereit. Eine große Pfanne Eierspeis, Brot, Joghurt, Honig und Gemüse. Nach dem Frühstück wird gepackt: „Ready for a picknick?“, grinst Hamid, als ich zu ihm ins Auto steige.
Picknick mit Freunden.
Wir sitzen auf einer kleinen Lichtung im dichten Wald. Der Platz wurde sorgsam ausgesucht – uneinsehbar, weit weg von der Straße. Dreimal sind wir stehen geblieben, um einen möglichen Lagerplatz in Augenschein zu nehmen, bis wir diesen hier auserkoren haben. Von drei Seiten Wald. Wieder spüre ich die Angst, doch sobald wir aus den Autos gestiegen sind, haben Sanaz und die anderen Frauen ihre Kopftücher vom Kopf gezogen. Ich blicke zur Straße, die durch einen kleinen Erdwall von uns getrennt ist. „Würde man uns so hier sitzen sehen“, sagt Sanaz, die sich nun zu mir gelehnt hat, „dann würden wir festgenommen werden“. Sie streicht sich durch die Haare. Sie wurde bereits einmal festgenommen, weil ihr Kopftuch zu einsichtig war. Sie sagt das mit so einer Selbstverständlichkeit in der Stimme, dass mir die Worte fehlen und ich nur nicke. Neben uns knistert das Lagerfeuer. Ich rieche den Rauch. Hamid sitzt neben mir und spießt Hühnerfleisch auf einen Metallspieß. Immer wieder verscheucht er mit einem lauten „Ssssscht!“ den um uns herumstreunenden Hund. Sanaz deckt ihren neben uns schlafenden Sohn zu. Aus den mobilen Boxen dringt laute iranische Musik. Sanaz‘ Mann beginnt zu singen. Hamid und die anderen stimmen mit ein. Ich blicke mich um. Schaue die Frauen an, die eingehakt da sitzen. Ich schau zu Hamid, der an seiner Zigarette zieht. Ich schau zu Ahmet, der gerade einen kräftigen Schluck des „iranischen Wassers“ nimmt. Bis in den Nachmittag wird geplaudert, gelacht, getanzt und gegessen. Lavash, das dünne Brot, Hühnerspieße, Grillkäse, Chips! Nebenan pfeift der Teekessel auf dem Lagerfeuer. Abwechselnd tönt iranische Popmusik, armenische Volksmusik und Wiener Hip Hop durch den Wald. Ein ganz normales Picknick mit Freunden. Nur eben im Iran.
Wenn Wünsche in Erfüllung gehen…
Als wir um 10 Uhr abends wieder in Hamids Wohnung ankommen, klopft es plötzlich an der Türe. Ich hieve meinen schweren Rucksack aufs Sofa und schaue zur Tür, aus der Hamid gerade verschwunden ist. Besuch vielleicht? Ich höre die Stimme einer Frau am Gang. Als Hamid wieder zur Tür hereinkommt, hält er zwei Styroporverpackungen in die Höhe, als wären sie ein Pokal. „Ich weiß, du hast gesagt, dass du nicht hungrig bist…“, grinst er. „Aber wir haben gerade Nasri bekommen“. Na… was? Ich schaue ihn an und er lacht. Dann beginnt er zu erklären: Wenn sich jemand etwas wünscht und dieser Wunsch in Erfüllung geht, dann richtet man zu Zeiten des Ashura Fests ein Essen aus, welches man an Freunde, Familie, Nachbar oder Fremde verschenkt. Hamid deutet mir Platz zu nehmen und stellt mir das Essen auf den Tisch: gelber Safranreis mit würzig-duftenden Fleisch und gerösteten Zwiebel. Ich grinse und schiebe mir den Löffel in den Mund. Es schmeckt köstlich. Manchmal werden eben auch Wünsche wahr, die man sich gar nicht gewunschen hat.
Gabriele says
Sehr schön geschrieben kleine Nomadin