Ich erzeuge mit dem Löffel einen Strudel in der trüb-braunen Flüssigkeit. Die Flocken der Kokosmilch verschwinden langsam in der Mitte der Tasse. Hier gibt es keine Kondensmilch wie auf Bali oder auf Nusa Lemongan. Nur Milch von den Kokosnüssen, die die 400 Einwohner selbst von den Palmen herunterholen. Ich ziehe den Löffel aus der Tasse und blicke auf das noch ruhige Meer. Es ist golden. Gar nicht weit weg, doch gefühlte Meilen entfernt sehe ich das große, laute Gili Trawagan. Ich schließe die Augen und höre ein Konzert der Entspannung. Das Rauschen der Wellen macht den Bass. Das Zirpen der Grillen den Sopran. Es geht ein leichter Wind. Die indonesische Fahne, die an einem Holzstab am Strand vor dem kleinen Holzunterschlupf,in dem ich sitze, befestigt ist, tanzt. Der weiße, leere Strand vor mir, die Hängematte unter den schattigen Bäumen neben mir, die Muschelketten, die im Wind scheppern. Das kristallklare, türkise Wasser. Ich greife nach der Tasse und nehme einen großen Schluck. Mein Leben hier auf Gili Meno ist so süß wie der Kaffee mit Kokosmilch, den ich hier jeden Morgen trinke.
Eine Weltreise in 20 Minuten.
Hinter mir höre ich es wiehern und weiche aus. Das Scheppern und Wiehern kommt näher und überholt mich schließlich. So geht Verkehr auf Gili Meno. Keine Mopeds oder Autos – nur kleine Kutschen, die von bunt behangenen und mageren Pferden über die holprigen Straßen gezogen werden, deren Pflastersteine wie unfertige Puzzle ausschauen. Ich schaue der Kutsche nach. Wenige Meter vor mir biegt sie in die winzige Straße ein, die die Insel kreuzt. Bei einer kleinen Hütte kurz vor der Abzweigung bleibe ich stehen. Schnorchel und Taucherbrillen hängen an einem Seil aufgereiht wie eine Girlande über dem kleinen Verkaufsstand. Vor der Hütte stehen schon ein paar Menschen. Ich suche mir einen Schnorchel, Taucherflossen und eine Brille und setze mich auf die kleine, brüchige Holzbank vor der Hütte. Ein kleiner Bub mit zerrissenen, roten Pyjamahosen spielt Snake auf einem alten Nokiahandy. Nach drei Spielen kommt ein Mann und erklärt den Wartenden, dass das Boot doch nicht kommt. Morgen. Zur selben Zeit. Oder in 30 Minuten. Vielleicht. Man weiß es nicht. Ob wir warten wollen fragt er. „Was sagt er?“, höre ich plötzlich. Ich habe schon lang kein deutsches Wort mehr gehört und drehe mich um. Lena, Anton, Waldemar und Julia sind aus Deutschland. „Der Trip ist abgesagt!“ Ich muss nach den deutschen Wörtern in meinem Kopf suchen. Die Vier schauen sich an. „Und was machen wir jetzt?“ Ich bin mittlerweile gut im Alleine sein, im Pläne ändern und spontan sein. „Wart ihr schon bei der Unterwasserausstellung?“. Davon hat mir John, der Strandverkäufer, gestern bei einem Cocktail erzählt. „Ich werd‘ da mal hinschauen. Lust mitzukommen?“ Ich schaue in überraschte Gesichter. „Ja!“, grinst Lena und schaut mich mit ihren großen Augen an. Ich borge mir das Schnorchelset für den ganzen Tag aus. Ihre Augen werden noch größer, als ich ihr Angebot es zu desinfizieren ablehne. Mit einem undesinfizierten und vier desinfizierten Schnorcheln spazieren wir los.
Anton löchert mich mit Fragen über den Iran. Waldemar fragt mich nach meiner spannendsten Reise. Ich erzähle ihnen von den 34 Ländern, in denen ich bereits gewesen bin. Vom Essen im Iran. Dem Zusammenleben der Religionen in Israel. Vom Schnorcheln in Thailand und der Natur in Kenia. Lena schaut mich mit ihren süßen, großen Augen an. Ihre Wimpern hat sie sich erst kurz vor dem Urlaub aufkleben lassen. „Und ich dachte wir reisen viel!“, sagt sie. Ich frage wo sie denn überall waren. „In Mauritius. Und jetzt hier auf Bali. Und nächstes Jahr wollen wir nach Griechenland.“ Ich grinse.
Hand in Hand.
Nach 20 Minuten und einer erzählten Weltreise kommen wir an. Julia ist der Einstieg über das Korallenriff zu gefährlich. Sie bleibt an Land. Lena, Anton und ich stampfen los. Wie ein Storch hebe ich meine Flossenfüße über die Korallen. „Achtung, Seeigel.“, sagt Anton. Waldemar kehrt wieder um. Eine Welle wirft mich auf die Korallen. Lena gibt mir die Hand. Wäre ich alleine, wäre ich vielleicht wieder umgedreht. So halten wir uns aneinander fest, weichen den Seeigeln aus und bahnen uns einen Weg durch die Korallen. Meine Hände brennen. Die Ausflugsboote sind weg, als wir das Riff überquert haben und der harte Boden unter den Füßen plötzlich weg ist. Langsam tauche ich meinem Kopf unter Wasser. Das Salzwasser brennt in den Schürfwunden, die ich mir geholt habe. Ich beiße die Zähne, presse die Augen zusammen und puste das Wasser aus dem Schnorchel. Ich stelle mir vor, dass ich wie ein Wal eine Fontäne im Meer erzeuge. Kurz treibe ich im Wasser. Doch als ich plötzlich die Augen wieder aufmache, sehe ich sie. Sie legt seinen Kopf auf seine Schulter, er steht hinter ihr, legt seine Hände auf ihren Bauch. Ein schwarz-gelber Fisch knabbert an ihrem Gesicht. Eine Fischfamilie umzingelt die sich am Boden windenden Steinmenschen. Mit der Hand streiche ich über die Steinmenschen, schwimme über das Nest aus Skulpturen. Hinter mir höre ich ein „Ohhhh“. Als ich mich umdrehe, wirken Lenas Augen hinter der Taucherbrille noch größer. Hand in Hand bahnen wir uns nach dem Schnorchelgang wieder gemeinsam einen Weg durch das Riff. Als wir wieder an Land sind, bedankt sie sich bei mir. Ich habe ihr einen Blick in die (Unterwasser-) Welt gegeben, sie mir ihre Hand. Ich glaube auch so beginnen Freundschaften.
Schwebende Steine.
Der nächste Tag. Der dünne Balinese streckt die Hand von sich. Kleine Luftblasen steigen durch seinen Schnorchel auf und bahnen sich ihren Weg zur Wasseroberfläche. Ich schaue zum Ende seines Zeigefingers. Ein grau-grüner Stein liegt am Meeresboden. Das Wasser ist so milchig, dass ich kaum etwas erkennen kann. Ich schüttle den Kopf. Was will er mit dem Stein, denke ich mir. Energisch streckt er seine Hand erneut aus und deutet wieder auf den Stein, der 10 Meter unter mir am sandigen Meeresboden liegt. Ich schüttle den Kopf wilder, als sich plötzlich in meinem Augenwinkel etwas bewegt. Ich halte inne. Der Balinese lässt die ausgestreckte Hand sinken. Ich schaue auf den Stein, der sich plötzlich zu bewegen beginnt. Zuerst ganz langsam. Kleine Bläschen steigen an mir vorbei und der Stein wird plötzlich größer. Erst als er direkt vor mir ist, erkenne ich, dass er der Grund ist warum ich überhaupt hier bin. Langsam gleitet sie an mir vorbei durchs Wasser. Kleine Algen ziehen sich wie ein Flaum über den grünlich-grauen Panzer der Schildkröte. Ganz langsam bewege ich meine Flossen, um sie nicht zu erschrecken. So groß und träge dieses Tier ausschaut, so schnell hängt es mich wieder ab. Ich nehme meine Arme dazu, als plötzlich in der milchigen Ferne ein zweiter grauer Fleck auftaucht. Ich wische über meine Taucherbrille. Der Fleck ist noch immer da und wird immer größer. Ich bekomme Besuch. Sie ist kleiner und flinker, streckt immer wieder den Kopf aus dem Wasser. Eine ganze Weile schwimmt sie vor mir her. Ich höre es hinter mir pfeifen und drehe mich um. Der Balinese winkt in der Ferne. Er will, dass ich zurück zum Boot komme. Er schaut aus wie eine Spielfigur, die man im Meer versenkt hat, denke ich mir. Ich winke zurück und hoffe noch ein paar Minuten Zeit schinden zu können. Doch als ich mich wieder umdrehe ist das trübe Wasser leer. Nur mehr ein grauer schwebender Stein sinkt in die Tiefe unter mir.
Das Schöne an Unterschieden.
Es ist mein, aber auch Lenas, Antons, Waldemars und Julias letzter Abend auf Gili Meno, bevor es für uns alle weiter geht. Sie treibt es in den Süden Balis. Die Route bereits vorgeplant, die Hotels gebucht, den Transfer organisiert. Ich hingegen will nach Ubud. Mein Hotel muss ich erst suchen. Den Transfer erst erfragen. Während sie an der Rezeption ihres Hotels stehen und ihre Fährentickets bestätigen lassen, scrolle ich erstmals durch die Hotelangebote. Das dritte Hotel buche ich, während sie die Hotelrechnung begleichen. Beim Abendessen bestellen wir Bier, teilen unser Essen und plaudern über das Leben hier und Zuhause. Die Unterschiede und Ähnlichkeiten. Immer wieder wundere ich mich, wie anders ich bin. Wie anders ich mittlerweile reise. Wie anders ich die Welt nach meinen Reisen und Erlebnissen sehe. Wie wenig mich Unterschiede stören. Und wie sehr ich sie sogar zu schätzen weiß. Der Kellner fragt uns, ob wir ein Foto wollen. Ich reiche ihm mein Handy und schaue in die Runde. Julia, die trotz Angst vorm Schnorcheln heute ins Wasser gestiegen ist. Waldemar, der mir so viel über die Geschichte der Russlanddeutschen wie ihn erzählt hat und mich zum mitgebrachten Metaxa trinken und Uno spielen auf ihrer Terrasse eingeladen hat. Anton, der seiner Frau alles ins Deutsche übersetzt, weil sie kein Englisch spricht und der trotz einer schweren Diagnose vor 5 Wochen, deren Angst ich persönlich kennen, kein bisschen an der Zukunft mit seiner Lena zweifelt. Und Lena, einer der herzlichsten Menschen, denen ich auf meiner Reise begegnet bin, die jeden Abend darauf bestanden hat, dass sie mich alle in mein Hotel am anderen Ende der dunklen Insel begleiteten und die so umwerfend ehrlich und sie selbst ist, wie kaum eine andere Person die ich kenne. So viele Unterschiede an einem Tisch. Und gerade deshalb war es der schönste Abend seit langem.
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