Und plötzlich ist es laut. Ich schrecke hoch und schaue aus dem Fenster neben mir. Dort wo vor zwei Stunden noch dunkle Wolkendecken waren, ist jetzt eine graue Landebahn. Und dort wo eigentlich ein blauer Himmel und Sonnenschein sollte, ist jetzt eine dichte graue Nebelschicht. Um mich herum beginnt das argentinische Leben aufzuwachen. Ich bin in Argentinien. In Südamerika. Auf einem Kontinent, von dem ich schon seit Jahren träume und mit dem ich immer ein gewisses Heimatgefühl verbunden habe, obwohl ich noch nie hier war. Ich schaue aus dem Fenster und als wir die Landebahn entlang rollen, fühle ich mich nicht hier angekommen und auch nicht wie zuhause. Und gleichzeitig mit dem Regen beginnen meine Tränen.
Ein neues Zuhause.
Ich hieve meinen Rucksack ins Taxi und schließe die Türe hinter mir. Als der Motor startet übertönt er mein schnell klopfendes Herz. „Ich bin in Argentinien.“, sage ich mir. „Freu dich doch.“ Der Taxifahrer dreht an dem Radioknopf. Es rauscht. Ich schaue auf die Straße, die vorbeiziehenden Häuserblöcke, Autos und Wiesen. Alles ist als hätte man einen grauen, schmutzigen Filter über die Linse gelegt. Die Bäume sind nicht wirklich grün. Die Häuser nicht wirklich weiß. Die Taxis nicht wirklich gelb. Ich lehne meine Stirn an die kalte Scheibe, als ich es auf einmal höre. Ganz leise. Doch plötzlich ist es das erste Mal seit langem wieder da. Nur ein wenig. Ganz leise und zart – wie die Musik aus dem Radio. Doch als der Taxifahrer plötzlich beginnt lauthals mitzusingen, spüre ich es ganz deutlich. Ich muss grinsen. Zuhause.
Mirta & Luis.
„Hola!“, sagt sie und drückt mich an ihre Brust. Sie riecht nach Oma. Mirta ist meine Gastoma für eine Woche und ich werde bei ihr und ihrem Mann Luis wohnen, während ich die Sprachschule in Buenos Aires besuche. „Que tal?“, sagt sie, gefolgt von einem Schwall spanischer Wörter, die ich nicht verstehe. Sie schaut mich mit großen Augen an. Ich lächle. Und nicke langsam. Viaje – de dondé vos – mediolunes – desayuno – ir. Nach 3 Stunden Schlaf und einem 13 Stunden Flug funktioniert mein Gehirn langsamer als sonst. Während ich noch die Worte des letzten Satzes zu einem Sinn zusammensetze, ist Mirta schon beim Ende ihrer Rede angelangt. Sie schaut mich fragend an? „Desayunar – frühstücken“, schießt es mir durch den Kopf. „Si!“, sage ich und lasse mich erleichtert auf den Sessel in der kleinen Küche sinken. Mirta kocht Kaffee. Und redet. Sie toastet Brot. Und redet. Sie stellt „Dulce con Leche“ auf den Tisch. Und redet. Ich esse. Mirta redet. Als der Teller und mein Kaffeebecher leer sind, ist mein Kopf umso voller. Als mich Mirta in mein Zimmer begleitet, höre ich ein leises Schnarchen und ein paar elektronische Stimmen aus dem Nebenzimmer. „Luis!“, sagt Mirta und deutet auf die Türe. Sie ist zu und wird es noch lange bleiben. „Hasta luego!“, sagt Mirta und schließt die Türe des kleinen Zimmerchens, welches für eine Woche mein Zuhause ist. Ich sinke auf das kleine, schmale Bett und schließe die Augen. Tausende Wörter tanzen in meinem Kopf und kriechen durch meine Gehörgänge. Bienvenido Espanol!
Aller Anfang ist schwer.
Es regnet und ich irre durch die Straßen. „Bank. Ich muss zu einer Bank. Ich muss eine Subte Karte kaufen. Ich brauche eine SIM Karte.“ Seit 30 Minuten laufe ich durch das Viertel und versuche die notwendigen Dinge zu erledigen, bevor ich morgen in die Schule muss. Der erste Kioskverkäufer hat mich angeschaut und den Kopf geschüttelt, als ich ihn auf Englisch nach einer Karte für die U-Bahn gefragt habe. Der zweite hat nur den Kopf geschüttelt. Im Handyladen in der nahegelegenen Galeria hat mir die Verkäuferin ein genervtes „No“ auf die Frage, ob sie Englisch spreche, entgegen geschleudert. Der erste Bankomat hat nicht funktioniert, der zweite hat mich 5 Euro Gebühren gekostet. Wie konnte ich nur denken hier alleine zurechtzukommen mit meinem Schulspanisch? Ich schau in den grauen Himmel und denke an Zuhause, wo jetzt bereits alle in ihren Betten liegen, während ich hier planlos durch die Gassen wandere und versuche die einfachsten Einkäufe zu tätigen. Das Gefühl von Zuhause ist weg, das Gefühl der Spannung ist weg, das Gefühl der Neugierde ist weg und was bleibt ist ein Gefühl der Einsamkeit in einer Stadt, die man nicht kennt und die es einem nicht leicht macht. Ich drehe den Regenschirm, den ich mir mit Händen und Füßen von Mirta ausgeborgt habe und dicke Tropfen fliegen nach allen Seiten. An meinen Füßen und in mir kriecht die eisige Kälte hoch. Und es ist nicht nur der Wind.
Der erste Schultag.
Mein Herz klopft, als ich Türe hinter mir zuziehe um wie Mirta mir gesagt hat, 3 Blocks geradeaus zu gehen und dann auf die Avenida Santa Fe einzubiegen, auf die Avenida de 9 Juli zu biegen und dann auf die Diagonale abzuzweigen, die mich direkt zu meinem ersten Schultag bringen soll. In die Academia de Buenos Aires. Die Sonne scheint, aber trotzdem ist es kalt hier. Ich ziehe den Zipp meiner Jacke zu und meinen Rucksack an mich. All das gestrige grau von Recoleta, einem Viertel von Buenos Aires, ist plötzlich farbig. Die großen Reklamen an der Avenida Santa Fe blinken grell, die Radio Taxis in gelb und schwarz schießen über die Kreuzungen, die bunten Busse sammeln an den Haltestellen stehende und einen Arm von sich streckende Personen auf. Ich sehe die Subte Stationen, die die gesamte Stadt verbinden. Ich sehe die stylischen Argentinier durch die Straßen sprinten und wie 14 Hunde einen Dogwalker ziehen. Ich gehe am Monument vorbei, sehe Evita als Installation von einem Hochhaus grinsen und die Casa Rosada in der Sonne stehen. Und als ich nach 50 Minuten an der Academia ankomme, habe ich nicht nur meinen ersten Schulweg, sondern auch meine erste Sightseeing Tour hinter mir.
Hablas espagnol?
„Un poco!“, sagen wir fast gleichzeitig. Verena und ich grinsen uns an. Die Welle stimmt, das merke ich sofort. Neben mir sitzen Nina, eine 39-jährige Journalistin und der 18 Jahre alte Paolo. Beide, genauso wie Verena, aus Deutschland. Luciana, unsere Lehrerin, grinst. Sie ist 28 Jahre alt, lebt in Palermo und spricht so gut Englisch wie wir Spanisch. Auf dem kleinen Tisch vor mir liegt mein Notizheft, welches in den nächsten zwei Wochen immer voller werden wird, genauso wie mein Wortschatz und mein Stundenplan. Nur an diesem ersten Schultag spaziere ich nach 4 Stunden Kurs durch das Schachbrettmuster Buenos Aires wieder nach Hause, kaufe mir mit den paar erlernten Wörtern eine Subte-Karte für die öffentlichen Verkehrsmittel und eine SIM Karte für mein Handy. Als ich am Abend in einer kleinen Pizzeria in Recoleta sitze, kommt der Keller zu mir. Vor mir liegen mein Notizbuch, ein Wörterbuch und mein neu gekauftes Vokabelheft. „Ah. Estudias espagnol en Buenos Aires?“, fragt er. Er schaut mich fragend an. „Si, soy estudiante.“, grinse ich ihn an. Er lächelt zurück und stellt mir ein Glas Rotwein und ein Steak auf den Tisch. Als er geht, zwinkert er mir zu. Denn diese Belohnung habe ich mir heute wahrlich verdient 😉
Gabriele says
So super wie du deine Reisegefühle niederschreibst!