„Hola chica! Que tal? Quieres un Copa de vino tinto?“ höre ich, sobald ich die Türe aufschließe. Es ist 22 Uhr. Ich schaue zur Küche, wo sich Mirta meistens aufhält wenn ich nach Hause komme. Doch dieses Mal ist es dunkel. Verwirrt schaue ich zurück und werfe einen Blick in das Wohnzimmer meiner Gastgroßeltern, welches bis jetzt immer leer war und mehr wie ein verstaubtes Antiquitätengeschäft ausgeschaut hat. Dieses Mal sitzen aber drei Menschen am großen Holztisch: Meine Gastoma Mirta, Mariella, die neue Mitbewohnerin aus Kanada und ein selten gesehener Gast, den ich bisher nur hinter verschlossenen Türen gehört habe: Luis, der Mann von Mirta und mein Gastopa. Er hat ein freundliches, faltiges Gesicht und seine Nase ragt wie ein Berg aus seinem Gesicht. Seine grauen, zottigen Augenbrauen verdecken seine leuchtenden Augen. Ich muss grinsen. Er erinnert mich an meinen Opa. „Copa de vino?“, fragt er nochmal als hätte ich ihn nicht verstanden. Die neue Gastschülerin grinst verlegen. „Si si!!“, sage ich und setze mich an den großen Tisch. Während Luis mir Wein einschenkt, beginnt Mirta zu reden. Wie mein Tag war, wo ich war, was ich gemacht habe, dass Mariella kaum Spanisch spricht, ob ich ihr Tipps geben kann, was ich denn eigentlich beruflich mache. Luis stellt die Flasche ab und Mirtas Prolog endet. Beide schauen mich an und auch Mariella blickt, erleichtert aus dem Mittelpunkt geraten zu sein, in meine Richtung. Ich greife langsam zu meinem Glas Wein, atme tief ein, hebe es an, mache einen kleinen Schluck und dann… beginne ich von meinem Tag zu erzählen!
Eine Stunde später schaue ich auf die Uhr. Die Gläser sind leer, aber Luis und ich sind noch am Plaudern. Er erzählt mir, dass er Journalist in einer der bedeutendsten Zeitungen Argentiniens war. 32 Jahre lang. Dass er es liebt zu schreiben. Dass ihm seine Arbeit sehr fehlt. Ich erzähle ihm, dass ich es liebe zu schreiben. Dass ich Wörter genauso sehr wie das Reisen liebe. Ich erzähle ihm von meiner Arbeit, meiner Familie, meiner Stadt, meiner Reise. Und das alles auf Spanisch. Als ich im Bett liege, denke ich an Luis letzte Worte zu mir: „Es ist toll, wie schnell du unsere Sprache lernst. Mach weiter so, Mädchen!“
Schlechte Tage.
Ich ziehe um. Mein Rucksack ist gepackt und ich stehe im Flur neben Mirta. „Mucho suerte para tu viejo!“, sagt sie und drückt mich an sich. Auch Luis ist aus seinem Zimmer gekommen um mich zu verabschieden. Er küsst mich auf die Wange – nicht nur wie üblich rechts, sondern auch links. Ich hieve meinen Rucksack auf den Rücken und bin froh, dass ich nicht weit gehen muss, denn mein neues Hostel ist gleich zwei Häuserblocks im Schachbrettmuster von Recoleta entfernt. Bis Freitag früh werde ich hier wohnen und weiter die Sprachschule besuchen, bevor ich weiter ziehe.
„Esa es!“. Meine Augen müssen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen und mein Kopf das Chaos sortieren. Kein Fenster, niedriger Raum, Schimmel an der Decke, vier Betten, kein Bad. Bevor ich realisiere wo ich hier hineingeraten bin, ist der Hostelmitarbeiter weg und ich stehe alleine in „meinem Zimmer“. Ich lasse meinen Rucksack auf den Boden sinken und setze mich auf eines der Betten. Das Bettzeug ist feucht und es riecht nach nasser Erde. Schnell stehe ich wieder auf. In meinen Augen sammeln sich Tränen. Ich ermahne mich ruhig zu bleiben. Langsam greife ich an die Decke über mir, doch bevor ich sie berühre, fällt mir ein Stück davon entgegen. „No Chance!“, denke ich mir und ziehe an der Tür. Als ich sie öffne, realisiere ich, dass es nicht die Eingangstüre ist, sondern eine nicht verschließbare Türe zum Gang. Hauptsache raus, denke ich mir, nehme meinen Rucksack und laufe die Treppen hinunter zur Rezeption. Ich schnaufe und erkläre dem Hostelmitarbeiter, dass ich „das“ nicht gebucht habe. Er schaut mich mit großen Augen an, dann seinen Bildschirm. „Come!“, höre ich ihn nur murmeln und hoffe auf das Wunder, dass die anderen Zimmer nicht ähnlich ausschauen. Eine Minute später stehe ich in einem Doppelzimmer mit Bad, wie es in meiner Buchung stand. Abgesehen vom Schimmel an der Decke, der – dank hoher Räume – zwei Meter von mir entfernt ist. Ich setze mich auf das nicht nasse Doppelbett, schaue auf das Fenster. Ober mir pfeift der Ventilator. Und fast höre ich ihn zu Boden fallen: den 1000 Kilo schweren Stein der Erleichterung.
Es gibt sie also auch hier.
Ich ziehe die Türe zu und lasse den Haufen Sorgen und den Schock des Vormittages hinter mir. Die Sonne scheint und es hat sicher 26 Grad, als ich durch die Gassen von Recoleta laufe um Verena an der Plaza Italia zu treffen. 20 Minuten sagt mein Handy. „Kein Problem!“, denke ich mir und marschiere schneller. Nach 20 Minuten ist keine Plaza Italia in Sicht und der Navigationspunkt auf meinem Handy hat sich kaum bewegt. Ich aktualisiere. Nichts. Der blaue Punkt auf der Karte bleibt stur, als ich es plötzlich sehe: Das kleine, unauffällige Autosymbol. Ich lache über mich selber und möchte aber gleichzeitig losheulen. Zum Glück habe ich dafür keine Zeit, denn Verena wartet und so steige ich ins Taxi und lerne die erste englischsprachige Person in Buenos Aires kennen. Ana, die ihre Hochzeitsreise in den Staaten verbracht hat und gleich auf zwei Jahre verlängert hat, chauffiert mich zur Plaza Italia. „Here’s my number, if you need anything“, sagt sie, als ich schon fast aus dem Auto draußen bin. Argentinische Reiseengel? Es gibt sie also doch.
Ein typischer Sonntag.
Verena wartet an der Plaza Italia bereits auf mich und erkennt auf den ersten Blick, dass der Sonntag bisher wohl nicht mein Tag war. „Ab jetzt wird er besser“, sagt sie – und ich glaube ihr. Langsam schlendern wir durch die Parks, unter den Jacaranda Bäumen durch und beschließen nach einem erfolglosen, weil langweiligen Abstecher in den japanischen Garten, einfach mal die Sonne und das Leben zu genießen. In einem Park in der Nähe legen wir uns auf die Wiese. Ich schaue zur breiten Straße, die nur wenige Meter neben uns verläuft. Zahlreiche Autos ziehen vorbei, doch kaum ein Geräusch kommt hier an. Ich schließe die Augen und höre mir den Sonntag an: Er klingt nach scheppernden Fahrrädern, die von ihren Benutzern um den See getreten werden. Er klingt nach fröhlichen Argentiniern, die sich im Park mit ihren Freunden treffen. Nach Kindern, die toben, nach Musik aus entfernten Handyboxen und nach über mir zwitschernden Vögeln.
Kein Getränk, sondern eine Religion.
„Quieres un mate?“, höre ich es neben mir. Eine Gruppe junger Argentinier sitzt neben uns im Gras. Neben ihnen steht eine braune Ledertasche, aus der der junge Mann eine Thermoskanne herauszieht. Vor ihm steht ein bis zum Anschlag mit Kräutern gefüllter kleiner, runder Becher, der aussieht wie ein geköpfter Minikürbis. Ein silberner Strohhalm steht ohne umzufallen in den Kräutern. Ich schaue fasziniert zu als er langsam das Wasser in den Becher leert, bis die Kräuter mit Wasser bedeckt sind. Der silberne Strohhalm bewegt sich nicht. „Ladys first“, sagt er als er die Thermoskanne wieder in der Mate-Tasche verstaut hat und reicht der jungen Frau ihm gegenüber den Becher. Durch den Strohhalm trinkt sie den Mate, reicht den Becher wieder ihren Freunden und das Ritual beginnt von vorne. Als nächstes ist sein dicklicher Freund dran. Und als zwei Minuten später eine junge Frau zur Gruppe kommt, um Nüsse zu verkaufen, bietet der Argentinier auch ihr einen Mate an. Denn das ist Mate. Kein Kräutertee. Kein einfaches Getränk. Nicht mal ein Ritual. Mate ist ein Glaube. Mate ist Freizeit. Mate ist Arbeit. Mate ist Familie. Und Freunde. Aber auch das Fremde. Mate ist Entspannung. Mate ist Gesellschaft. Mate ist sonntags. Aber auch Wochentags. Egal ob sonntags im Park, mit der Freundin oder der Nussverkäuferin. Mate ist einfach Mate. Und merke: Ohne Mate geht in Argentinien nichts. Schon gar kein Sonntag.
Nena, 99 Luftballons & eine neue Freundin.
Vor uns stehen die leeren Teller unseres Abendessens. Wie es der Zufall so will, sind wir direkt beim Buenos Aires Food Festival geraten. Die Sonne senkt sich schon und die letzten Strahlen legen einen hippen Instagram Filter über die bunten Girlanden und die kleinen Foodtrucks. „Ich glaube, wir sind jetzt bereit!“, sagt Verena, grinst und steht auf. Als sie weggeht, schaue ich mich um: Tätowierte Mädels in hippen Plateauschuhen, hippe Jungs in engen Jeans und Tattoos am ganzen Körper. Das ist mir sofort aufgefallen: Argentinier achten nicht nur auf ihren Körper, sondern verschönern ihn auch gerne und großzügig. Hinter mir rauscht die Box und in der Ferne sehe ich Verena wieder in der Menschenmenge auftauchen. In ihrer Hand hält sie zwei Becher: „Für einen besseren Sonntag: Cuba Libre!“ Ich weiß, warum ich diese Frau mag. Wir lachen. Als plötzlich Nena und 99 Luftballons aus den Boxen hinter und kommt, fühle ich mich fast wie Zuhause. Ich hebe mein Glas. Auf neue Freunde und ein bisschen Heimat in der Ferne. Salud!
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