Ich schaue aus dem Hostelzimmer und alles was ich sehe ist grau: Eine graue Wand, ein grauer Himmel. Dicke Regentropfen klopfen an das undichte Fenster meines Doppelzimmers. Ich sinke auf das Bett, dass für meinen Rucksack reserviert ist und schnaufe. Gegenüber von mir hängt ein Bild von Puerto Varas: Die Kirche, erhaben auf dem kleinen Hügel, der ruhige, tiefblaue See und der schneebedeckte Vulkan Osorno schauen mir entgegen. Nicht umsonst gilt Puerto Varas als die chilenische Schweiz, als Outdoor und Trekking Paradies, als Naturschönheit. Ich habe mich schon auf den Berg klettern gesehen. Es wäre der zweite Vulkan in 3 Monaten. Meinen ambitionierten Plan, das Monster zu besteigen und mit einem Mountainbike runterzufahren, haben die Mitarbeiter des Hostels aber gleich bei meiner Ankunft zerschlagen. „There are no tours until Sunday because of the rain.“ Und so starre ich auf das Poster vor mir. So werde ich Puerto Varas wahrscheinlich nie sehen.
Luxus auf Reisen.
Ich wache mit meiner Haube am Kopf auf und mir ist trotzdem kalt. Unter den 4 Schichten Decke versuche ich meine Zehen zu bewegen. 1,2,3,4,5 – alle noch da, denke ich mir und befürchte sie wieder zu verlieren, sobald ich das halbwegs gewärmte Bett verlasse. Ich ziehe den Vorhang hinter mir zu Seite, sehe immer noch grau und überlege kurz liegen zu bleiben. Aber könnte meine Blase schreien, wäre das ganze Hostel schon taub und daher mühe ich mich aus dem Bett, um aus dem Doppelzimmer auf das unversperrbare Gemeinschaftsbad zu schleichen. Bei dem Wort „Doppelzimmer“ endet also der Luxus, den ich mir auf Reisen gönne. Als ich im Pyjama wieder zurückschleiche und niemanden begegnet bin, freue ich mich für meine mir abhandengekommene Reisebegleitung: Dank kaputter Dusche muss ich mich zumindest nur selbst riechen. Und vom Anblick unrasierter Frauenbeine möchte ich hier gar nicht erst anfangen.
Wasser, die Erste.
Ich blinzle auf den See. Die dicken Tropfen hinterlassen ein Muster auf der Wasseroberfläche. Tausende kleine Punkte erscheinen und verschwinden immer wieder und bringen das Bild vor mir zum Flimmern. Es sieht fast so aus wie das Ameisenbild von Omas alten Fernseher – nur eben in Blau. An einem kleinen Steg biegen sich die Palmen im Sturm. An der Promenade mit Blick auf den kleinen dunklen Sandstrand versteckt sich ein brauner Streuner unter einer Holzbank, auf der normalerweise die erschöpften Seniorenpärchen nach ihrem Spaziergang sitzen. Die Hotels in Alpenidylle ragen aus der Nebelsuppe, die sich durch die ganze Stadt zieht. Seit 30 Minuten spaziere ich durch den Regen, bin zur Kirche gewandert, durch einen kleinen Wald mit Blick auf den See, bin am Ufer entlang spaziert. Kaum Menschen. Überall nur Wasser. Von vorne, der Seite, von oben.
Wasser, die Zweite.
Ich wache auf und habe Angst mir meine liebgewonnen Oropax aus dem Ohr zu ziehen. Ich will ihn nicht mehr hören. Ich kneife die Augen zu und drehe mich sturr zur Wand. Nach 2 Minuten gewinnt dennoch meine Neugierde und ich ziehe die Stöpsel aus meinen Ohren. Da ist er ja wieder. Regen. Nach der Katzenwäsche für Reisekatzen packe ich meinen Rucksack, ziehe meine drei Schichten Gewand inkl. Regenjacke an und marschiere los. Ich will mehr als das graue Puerto Varas sehen. An der Busstation steige ich in den Minibus nach Ensenada. Nach 45 Minuten steige ich mitten im Nirgendwo wieder aus und flüchte vor einer Gruppe schnatternder Teenager, die anscheinend ihren Schulabschluss feiern. Na das kann was werden, denke ich mir, als ich an der Kasse statt dem Preis für Chilenen, den für „Extranjeros“ zahlen muss. Plötzlich ist es wieder da: Wasser. Nur diesmal kein See. Nein, ich schaue direkt auf das kristallklare Wasser der Saltos del Petrohue. Ich sehe die Wassermassen über riesige Steine ziehen, sich in die Tiefe werfen, unten aufkommen, sich zerteilen und wieder zu einer türkisblauen Masse zusammenfinden. Der fein aufziehende Wassernebel hantelt sich mühsam über die Baumspitzen des Waldes hinweg. Ich spüre wie die Feuchtigkeit auch in meine Kleidung kriecht und beschließe meinen Blick von den blauen Strömen loszureißen und mich in den trockeneren Wald zurückzuziehen. Die Teeniegruppen werden immer leiser, während ich durch einen Wald wandere, der einem kleinen Duschungel gleicht. Neben mir hängen Lianen zu Boden, riesige Farnblätter säumen meinen Weg und hinter jeder Wegbiegung wartet ein neuer kleiner Wasserfall, eine weitere grüne Lagune oder ein anderes wildes Dschungelbächlein. Bevor ich den Wald und Wasser verlasse, schaue ich noch einmal zurück zu den tosenden Wassermassen: Ein Aquarell aus Blautönen, dass sich immer wieder neu mischt.
Auto, das Zweite.
Ich stehe auf der Straße vor dem Parkeingang. 5 Schulbusse mit Teenies sind abgefahren, kein einziger der kleinen Minibusse, mit denen ich hier angelangt bin, ist bisher gekommen. Ich schaue auf die leere Straße. Links kein Auto, Rechts kein Auto. Links kein Mensch, rechts kein Mensch. Ich schaue auf mein Handy: Auf dem regennassen Display sehen ich, dass ich bereits 1,5 Stunden hier warte. „20 Minuten – Vienti minutos .“, wiederhole ich im Gedanken die Worte des Kioskverkäufers, den ich gefragt habe, wann der Bus denn fährt. Ich lache und möchte gleichzeitig weinen. Langsam steige ich von einem Fuß auf den anderen. „Autostoppen!“, schießt es mir durch den Kopf. Das nächste Auto. Ein großer roter Pick up fährt nach 15 Minuten vorbei. Ein alter, böse dreinschauender Mann krallt sich am Lenkrad fest. Doch nicht, denke ich eine Sekunde bevor ich meine Hand heben will. Er fährt vorbei, ich schaue ihm nach. Nach 10 Minuten sehe ich ein blaues, kleines Auto aus dem Parkplatz biegen. Ich bin entmutigt und verunsichert. Als das Auto vorbeifährt, schaue ich durch die kleinen Scheiben: Zwei lustig dreinschauende, junge Männer sitzen im Auto. Ich höre laute und fröhliche Musik aus dem Auto. Ich lächle sie schwach an. Sie fahren vorbei und wieder schaue ich ihnen nach. Doch plötzlich bleibt das Auto stehen und rollt zurück. Auf meiner Höhe bleiben die beiden stehen. Das Fenster fährt herunter und zwei Münder grinsen mir entgegen. „Lago Todos Los Santos?“, frage ich und grinse die beiden an. „Petrohue. Sí!“, grinsen die beiden zurück und deuten mir einzusteigen. Keine Sekunde später sitze ich mit Christian und Manuel aus Temuco im Auto zu dem Lago Todos Los Santos in Petrohue.
Wasser, die Dritte.
Auf der Fahrt nach Petrohue plaudern Christian, Manuel und ich in einen lustigen Mix aus Spanisch und Englisch über unsere Leben und meine Reise. Die beiden leben in Temuco, Chile, und sind beruflich unterwegs, um für die Universität, für die sie arbeiten, Wetterdaten zu erheben. Während Christian der Musikbeauftragte im Auto ist, ist Manuel der Fahrer und Entertainer. Nach ein paar Minuten Autofahrt über eine unbefestigte Straße steigen wir beim Lago Todos Los Santos aus. Die Ausflugsboote auf denen Teeniegruppen und Luxus Touris für teueres Geld über den See schippern können, legen gerade ab. Je weiter sie sich entfernen, desto leiser wird es am schwarzen Strand, den der Vulkan geschaffen hat, der im Nebel hinter uns wacht. Manuel, Christian und ich stehen am See. Wasser, Wasser, Wasser und Wolken, denke ich. Dicke graue, weiße und blaue Wolken hängen am Himmel und ziehen sich über den See und die angrenzenden Berge. Es wirkt mystisch. Ich schaue Christian an, der mit seinem Handy gerade ein Foto vom See macht, Manuel, der in die Ferne schaut und muss lachen. Ich stehe mit zwei wildfremden, super lieben Menschen an einem Lavastrand irgendwo im Nirgendwo von Chile. Die Stimmung könnte nicht mystischer sein. Und ich, ich könnte mich gerade nicht wohler fühlen.
Bus, der Letzte.
„Let’s keep in touch! Gracias chicos.“, sage ich als mich Christian und Manuel aus dem Auto aussteigen lassen. Hier in Ensenada hätte ich bessere Chancen auf einen Bus, sagt Christian. Und wenn nicht, sagt Manuel, einfach die Hand heben und Autostoppen. Bis vor Kurzem hätte ich noch geschockt den Kopf geschüttelt, bei dem Gedanken bei wildfremden Menschen ins Auto zu steigen, und jetzt… Ich nicke Manuel zu und grinse: Sí, claro. Als sich das blaue Auto mit meinen zwei neuen Freunden entfernt, stehe ich wieder alleine auf der Straße. Kein Mensch, kein Bus. Hinter mir taucht plötzlich ein alter Mann in einer grünen Warnweste auf. Wann und wo ein Bus kommt, frage ich ihn. Hier, 20 Minuten. Diese Aussage kommt mir bekannt vor. Ich schaue auf mein Handy. „Bitte, Kind, nimm den Bus!“, schreibt die Nomaden-Mutter, deren Nerven ich mit meinem Abenteuer „Weltreise“ so schon sehr strapaziere. Und noch bevor ich antworten kann, sehe ich in der Entfernung einen kleinen Minibus anrollen. „Sí, claro.“, schreibe ich meiner Mutter, bevor ich diesmal die Hand hebe und damit den Bus zum Halten bringen, der mich wieder nach Puerto Varas bringt.
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