Es ist 1 Uhr morgens als ich aus dem Fenster schaue. Millionen kleine Lichter leuchten Kilometer unter mir. Ich spüre ein aufgeregtes Kribbeln in meinem Bauch, als die rötlich leuchtenden Quadrate immer näher kommen. Ich denke an all das was mir bisher über die Stadt unter mir erzählt wurde: „Take care!“, höre ich Sebastián sagen. „It’s loud and chaotic“, höre ich Pabla. Laut, wild, chaotisch, schmutzig soll sie sein. Und trotzdem freue ich mich, als die Rollen der kleinen Maschine auf dem harten Boden landen: Willkommen, Santiago de Chile.
Weihnachtsshopping ohne Vino. Oder auch: Wie soll ich das bloß überleben?
Es ist Montagmorgen und ich habe das Gefühl, ein Lastwagen fährt durch mein Hotelzimmer. Ich drehe mich verdutzt um und schaue auf die leere Seite des Bettes: Kein Lastwagen. Dieser hat sich wohl doch nur auf der 4-spurigen Straße vor dem Hotel eingebremst. Ich schaue auf mein Handy. 8 Uhr. Wieder spüre ich ein Kribbeln im Bauch. „Bald.“, denke ich mir und springe motivierter als sonst aus dem Bett. Während dem Duschen versuche ich mich mit einer Weihnachtsplaylist in die passende Tagesstimmung zu bekommen, denn heute ist Weihnachtsshopping angesagt. Angesichts von Sonnenschein, 32 Grad und strahlend blauem Himmel schaffen es selbst „Last Christmas“ und andere Klassiker nicht diese Aufgabe zu vollbringen. Ohne Weihnachtsstimmung, aber dafür mit kurzen Shorts, Sonnenbrille und Flip Flops marschiere ich los.
Einmal links, zweimal rechts und plötzlich stehe ich im hippen Bellavista. Hier reiht sich ein buntes, mit Streetart geschmücktes Haus an das nächste. Die Gassen sind gesäumt mit coolen Bars, Restaurants und farbenfrohen Graffitis. Ich schaue auf die Uhr. 12 Uhr. Skypedate mit dem besten Freund und dem obligatorischen Gläschen Wein. (Irgendwo ist es schließlich immer spät genug für Wein – in diesem Fall in Wien!) Ich lasse mich auf den weißen Plastiksessel im Schatten sinken und bestelle mit meinem besten Schulspanisch ein „Copa de Vino Blanco“. Zwei Minuten später stellt mir der junge Kellner ein Glas Weißwein auf den Tisch und grinst mich an. Die Videokonferenz mit zuhause – wo man gerade beim Gläschen Vino Tinto ist – ist in vollstem Gange, als ich plötzlich eine Gestalt neben mir sehe, die nervös von einem Fuß auf den anderen steigt. Ich ziehe meinen Ohrstöpsel aus dem Ohr als ich ein „Perdón“ höre. Im schnellsten Spanisch redet der Chef des Lokals höchstpersönlich auf mich ein. Während er – typisch chilenisch – Worte verschluckt, verschlucke ich mich – sehr untypisch – an meinem Wein, als er mir erklärt, dass er heute, aufgrund der Wahlen, keinen Alkohol ausschenken darf. Ich schaue ihn verwundert an, als er nach meinem Glas greift und verlegen lächelt. Kein Wein für mich.
Nach dem zumindest mein Skypedate seinen Wein austrinken durfte, ziehe ich ohne Wein weiter. Nächste Aufgabe: Finde einen Shop für Weihnachtsdekoration. Ich schaue auf mein Handy. Zwei Stunden Zeit, 32 Grad. Mir treibt es den Schweiß auf die Stirn. Ich beschleunige meinen Schritt und laufe an unzähligen, coolen Grafittis vorbei, die ich sonst wohl alle fotografiert hätte. Keine Zeit. Stress. Links, rechts, links, links und plötzlich stehe ich in Santiagos Shoppingviertel Patronata. Geschäfte voll mit bunten T-Shirts, voll mit bunten Wollknäuel, voll mit Schuhen, voll mit Arbeitsbekleidung. Nirgendwo Weihnachtsdekoration. In der nächsten Gasse werde ich fündig: Glitzernde Girlanden in allen möglichen Farben und für jeden nur erdenklich möglichen Zweck sagen mir, dass es hier alles gibt, was der chilenische Deko-Wahn begehrt und so verlasse ich mit Girlanden, Christbäumchen, Weihnachtsmütze und Rentiergeweih das Geschäft. Und das alles nur für den Einen….
Mein Glück im Unglück.
„Flug gestrichen“, höre ich es aus dem Smartphone und zucke in der frisch dekorierten Deko-Hölle namens Hotelzimmer zusammen. Es ist Weihnachten, nicht Fasching, denke ich mir und sage nur: „Keine Witze!“ Mein Herz klopft. Nachdem der Flug des Nomadenmannes von Wien nach Amsterdam bereits um 3 Stunden verspätet war und er umgebucht wurde, damit er seinen Flug nach Santiago erwischt, wäre das jetzt wohl der schlechteste aller Witze. Ich warte auf das erlösende: „War ein Witz!“, doch das Smartphone schweigt. „Kein Spaß!“, sagt er und mein Herz rutscht in die Hose. Die nächsten drei Stunden verbringe ich am Smartphone und bin mehr in Amsterdam als in Santiago. Als der Nomadenmann in einem Hotelzimmer in Amsterdam einschläft um morgen den Ersatzflug über Rio de Janeiro anzutreten, beschließe ich essen zu gehen – hoffentlich ein letztes Mal ohne ihn.
0:35 Uhr. Ich schrecke hoch und schaue panisch auf mein Handy. Null Uhr Fünfunddreißig! Mein Kopf schaltet in den „Keine Panik“-Modus. Taxi kommt um 00:40. Ich springe aus dem Bett. Gewand finden. Gewand anziehen. Schneller. 0:37. Schminken – keine Zeit. Handy. Geldbörse. Ich laufe barfuß zur Hotelzimmertür. Mist. Schuhe! Ich stolpere in Flip Flops hinaus, renne die Treppen hinunter und dort erwartet mich um 0:40 Uhr: Nichts. Kein Taxi weit und breit. Der Rezeptionist grinst mich an. Mein Kopf schwirrt und so stammle ich, diesmal nicht einmal im Schulspanisch, dass ich so schnell wie möglich ein Taxi zum Flughafen brauche. Nach 10 Minuten hat er mein Problem verstanden, weitere 10 Minuten später steht ein Taxifahrer, der mir das Doppelte kostet, wie der, den ich reserviert habe, vor der Türe. Als würde er selbst davonfliegen wollen, schießt er mit mir am Rücksitz durch die Straßen. Ich bin zu müde, um mir Angst um mein Leben zu machen. Als ich am Flughafen aussteige ist es stockfinster. Ich schlafwandle zum ersten offenen Café und lasse mich müde auf den Sessel sinken, auf dem ich jetzt ganze 3 Stunden und 3 Ginger Ales lang sitzen werde, bis der verspätete Flieger aus Rio landet. Mit im Gepäck: Mein Glück. Nicht im Gepäck: Sein Gepäck. Doch wer braucht schon Duschgel und kurze Hosen? Liebe reicht.
León, Salvador & Pablo.
„So Guys.“, sagt León im perfektestem Englisch und grinst uns durch seine Harry Potter Brille an. „You know what this is?“, fragt er uns? Er trägt ein T-Shirt und darüber seine Freetour Walking Jacke. Schon bei dem Anblick treten mir die Schweißperlen auf die Stirn. Er deutet auf ein kleines Café, in dem eine pralle Chilenin in kurzem Kleidchen gerade ein Getränk serviert. Léon grinst uns an: „Café with legs“, sagt er, „mit dieser Methode wurden in solchen Cafés damals männliche Gäste angelockt.“ Damals, erzählt er, waren diese Cafés ausschließlich für Männer. Mittlerweile ist man hier weniger streng und die Cafés with leg’s wurden durch andere Etablisments – wo nicht nur mehr nackte Frauenbeine zu sehen sind – abgelöst. Für uns gibt es aber noch keinen Café und keine nackten Frauenbeine – sondern noch mehr Geschichten über Santiago.
Von einem Schattenpunkt flüchten wir in den nächsten und lernen so viel über Santiago und Chiles Geschichte. Und nicht jede davon ist so erheiternd wie jene der „Café with legs“. Als wir vor der „La Moneda“ stehen und auf das Denkmal von Salvador Allende blicken, die Einschusslöcher in den Statuen vor dem Regierungsgebäude sehen und León über jene dunkle Zeit Chiles spricht, die ewig weit entfernt scheint, doch erst rund 45 Jahre zurückliegt, wird uns trotz 32 Grad kalt. Leóns Stimme wird leiser, als er von den Verbrechen, von den verschwundenen Menschen, den Menschenrechtsverbrechen, den Morden spricht. Er erzählt, dass sein Großvater damals glücklicherweise in einer regierungsnahen Bank gearbeitet hat und die Familie gut versorgen konnte, und sie nicht, wie andere, Hunger leiden oder gar Hunde essen mussten. Ich schaue auf das weiße makellose Gebäude, das bei dem Putsch von Salvador Allende durch das Militär total zerstört war. Leóns Stimme wird immer leiser, bis ich schließlich nichts mehr höre. Keine hupenden Autos, keine dem Weihnachtswahn verfallenen Chilenen, die durch die Stadt laufen, keinen León. Das einzige was ich höre ist mein Herz, das viel zu laut klopft. Und wie auch damals in dem Park in Belgrad, als Stephan mir erzählt, wie er den Krieg miterlebt hat, kommt ein mir so bekanntes Gefühl wieder: Das Glück und die Erleichterung, in eine Zeit ohne Kriege hineingeboren zu sein.
„Und wer ist jetzt Pablo?“ Wir stehen vor der blauen Chascona, dem meerblauen Haus von Pablo Neruda, welches wie ein Schiff am Hang des Cerro San Cristobal liegt und auf das Häusermeer der Stadt blickt. Der Kapitän: Ein exzentrischer Dichter und Politiker, ein Nobelpreisträger und großer Mann Chiles. Und, als Schreibende, ein Mensch, der mein Schreiberherz zum schneller schlagen bringen kann. „Ich zeig’s dir!“, sage ich und nehme die Hand des Nomadenmannes. Schon beim Eintreten bin ich in der Welt der Worte und der von Pablo: Im kojütenartigen Esszimmer sehe ich Pablo mit seinen Dichterfreunden sitzen und nach den bunten Gläsern aus Portugal greifen, die er von seinen vielen Reisen mitgenommen hat. Ich sehe ihn die kleine, enge Wendeltreppe zu seinem Rastplatz hochschleichen und hinaus in den Garten blicken. Ich sehe ihn mit seiner Liebhaberin und der Namensgeberin der Chascona, was soviel heißt wie „Messy Hair“, Matilde Urrutia“ im Wohnzimmer sitzen, während der Kamin neben ihnen knistert und die Bilder von seinen Freunden Diego Rivera und anderen Künstlern schwach auf sie herabblicken. Ich sehe, wie er an seinem Schreibtisch sitzt, seine handgeschriebenen Notizen mit Rotstift korrigiert. Wie er gezielt an den Worten feilt, die noch heute mich und die Welt bewegen. „Wer ist Pablo Neruda?“, wiederhole ich für mich noch einmal die Frage des Nomadenmanns. Das ist Pablo Neruda:
“I love you without knowing how, or when, or from where. I love you simply, without problems or pride: I love you in this way because I do not know any other way of loving but this, in which there is no I or you, so intimate that your hand upon my chest is my hand, so intimate that when I fall asleep your eyes close.”
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