„There is streetart on every house.“, höre ich Leóns Stimme in meinem Kopf. „The best city!“ Andrés aus Portugal erscheint vor meinem inneren Auge. „Muy lindo“, erinnert mich Manuel aus Temuco. Ich sitze im Bus mit dem Nomaden-Mann und sehe die Erde, die in Patagonien noch dunkelbraun und in Puerto Varas vulkanig-schwarz war, immer gelber und staubiger werden. Die Hochhäuser von Santiago sind kleinen Höfen und Weingärten, die hohen Anden sanften Hügeln gewichen. Ich klappe den Bussessel zurück, sodass ich fast liege, und lasse die Landschaft und meine Gedanken an mir vorbeiziehen. Alles ist anders – und damit meine ich nicht nur was ich sehe, sondern auch was ich fühle. Eine neue Stadt, eine neue Reiseart, eine neue Begleitung. Santiago hat es mir und dem Nomaden-Mann zu Beginn nicht leicht gemacht: 16 Stunden Verspätung, viel Aufwand wegen dem lange verschollenen Gepäck, bereits plankliegende Reisenerven. „Wie das wohl weitergeht?“, frage ich mich und greife unsicher zu der Hand neben mir. „Jetzt wird alles gut! Ich bin mir sicher!“ Wie recht er doch haben wird.
Von Tags & bunten Wänden.
Ich schaue mich im Kreis um. Sie sind überall. Neben mir, über mir, vor mir, hinter mir. Neben der Türe zum kleinen Kiosk, hinter dem Straßenverkäufer, der am Boden Nagelfeilen neben Haschpfeiffen verkauft und über den Balkonen im 3. Stock des Wohnhauses vor mir. „Sie sind der Grund, warum Valparaiso so aussieht, wie es aussieht.“, sagt Chris und deutet auf den lila Schriftzug an der Wand. Tags. Kaum lesbare und nicht unbedingt schön anzusehende Schriftzüge – Unterschriften oder Slogans von Grafitti-Künstlern oder Gruppen – in den unterschiedlichsten Farben und Formen. „Alle Mauern sind voll von ihnen“, erzählt Chris, „und die einzige Möglichkeit wie du verhindern kannst, dass deine Mauer getagged wird, ist…“ Er schaut fragend in die Runde. Eine Gruppe ahnungsloser Streetartinteressierter schaut zurück. Genau die Reaktion die er wollte, verrät sein Grinsen. ‚I’ll show you‘, sagt er und biegt in die nächste Gasse. Vor einer riesigen bunten Hauswand bleibt er stehen. „This!“ Der Nomaden-Mann und ich schauen gespannt auf die Wand, die einen gehenden Fischkopf mit Holzschuppen zeigt, um den sich ein Band mit Schlangenkopf windet. „Wenn du hier in Valpo eine Wand ohne Tags haben willst, dann lässt du dir die Wand von einem Streetartist bemalen.“ Eine mündliche Vereinbarung mit dem Hauseigentümer reicht.
Wir marschieren weiter – steigen über Klaviertreppen, riechen fast Van Goghs Sonnenblumen und weichen einem farbigen Erdrutsch von links aus. Wir folgen weißen Ameisen, werden begleitet von bunten Vögeln und lernen viele neue Gesichter der Stadt kennen. Jede Hauswand katapultiert uns in neue bunte Welten, wie jene von Inkolor Distinto, einem in der Stadt berühmten und lebenden Künstlerpärchen. Jede Straße, jede Ecke, jede Treppe, jede Wand und sogar jede Straßenlaterne ist ein Kunstwerk für sich. Nach 4 Stunden verabschiedet sich Chris von uns und lässt uns mit viel neuem Wissen und einem wunderschönen Blick von einem der „Cerros“ – Hügel von Valparaiso – zurück. Direkt vor mir sehe ich das große Kunstwerk eines mittlerweile in Paris und für Louis Vuitton zeichnenden Künstlers. Daneben ein mehrstöckiges Hochhaus. Und: eine weiße Wand. Ich schaue nochmal hin. Eine weiße Wand. Kann nicht sein, denke ich mir. Eine weiße Wand! So wirklich weiß, weiß. „Na, ready?“, sagt der Normaden-Mann neben mir und grinst.
Aus Theorie wird Praxis.
„Hello again.“, begrüßt uns Chris ein paar Stunden später wieder. „Ready for part 2?“ Wir nicken nervös. „Let’s go then!“, sagt Chris und setzt sich seine Sonnenbrille auf. Wir marschieren los. Wieder gehen wir an riesigen Mauerwerken vorbei, erkennen einige der Künstlerhandschriften vom Vormittag wieder und staunen über die unterschiedlichsten Stile der Kunstwerke: Dünne Linien, dicke Linien, farbige Flächen, pinselartige Striche. Unser lebender Audioguide weiß zu jedem Kunstwerk etwas zu erzählen. Zu dem blauen Vogel, der erst gestern vom einem brasilianischen Künstler gemalt wurde. Oder zu den noch lange nicht fertigen, mit kleinen Pinselstrichen bemalten Stufen vor einem kleinen Hostel am Cerro Concepcion. Wir biegen in eine kleine Seitengasse ein, als Chris plötzlich stehen bleibt, als gäbe es ein neues Kunstwerk zu erklären. Wir schauen uns um: Getaggte Hauswände zur einen Seite, eine bunte Wellblechmauer zu anderen. „Und wo ist jetzt das Kunstwerk?“, frage ich mich im Gedanken. Doch noch bevor ich fertig gedacht habe, beantwortet Chris meine Frage: „Now you are going to be the Artist!“ Und in der kleinen – in der Dunkelheit sicher zwielichtigen Gasse – wird aus der Theorie nun Praxis:
„Here we go!“ Chris drückt mir die Spraydose in die Hand. Ich schaue sie verwundert an. Rosa. „Just for the outlines“, erklärt er. Die Vorzeichnungen machen die Künstler mit hellen Farben. Ich halte die Dose an die Wellblechwand. Sie scheppert ohne dass ich sie schüttle, so nervös bin ich. „Just try a line!“ Chris grinst mich von der Seite an. Ich drücke auf den Sprühknopf und hinterlasse einen riesigen, verschwimmenden rosa Fleck auf der Wand. „Ups“, sage ich entschuldigend. Während ich noch bei den Strichübungen bin, ist der Nomanden-Mann schon mit seiner Outline fertig. Während ich gerade mal beim vorzeichnen bin, ist der Nomaden-Mann schon beim Ausfüllen der Flächen. Und während er die ausbleichenden Outlines sprüht und Chris geduldig meine Fehler ausbessert, beschließe ich lieber doch bei Worten statt Wänden zu bleiben.
Ist es schon soweit?
Als ich aufwache scheint die Sonne. Michael Jackson, dem unser Zimmer im Ecomusic Hotel gewidmet ist, tanzt gegenüber der Wand des Bettes im prallen Sonnenschein. Ich drehe mich zum Fenster: Blauer Himmel! Keine Wolke am Himmel! Kurzer Hose-Tag. Oder Kleid! Viel Auswahl gibt es nicht, denn der Reisekleiderschrank ist beschränkt. Ich greife langsam nach dem Handy auf dem Nachtkästchen. Uhrzeit: 08:30! Datum: Ich schrecke hoch. Kann doch nicht sein, oder? Ich schaue nochmal! Ist so. Keine Zweifel. Ich schaue aus dem Fenster und dann zum noch schlafenden Nomaden-Mann neben mir, dann wieder aus dem Fenster. Nochmal aufs Handy. Status unverändert. Ein Blick zu meinem Nachtkästchen. Eine kleine Metallbox steht darauf. Ich hole sie zu mir ins Bett. Neben mir beginnt sich plötzlich die Decke zu bewegen. Ich greife schnell zu meinem Handy, tippe wild darauf herum. Die Bewegungen neben mir werden schnell lebendiger. Doch genau als der Nomaden-Mann sich zu mir umdreht, bin ich ready: Mit der importierten Metallbox – gefüllt mit Keksen von der Nomaden-Mama – und einem lauten „Last Christmas“ aus dem Handylautsprecher grinse ich meinen Lieblings-Weihnachtsfanatiker an. Und so startet der 24. Dezember für uns fast wie Zuhause – mit Weihnachtslieder und Keksen von der Mama – nur eben bei Sonnenschein, 30 Grad und am anderen Ende der Welt.
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