2800 Meter. Quito am 1. Jänner 2018. Ich bin müde und mir ist schlecht. So fängt das neue Jahr ja oft an. Für mein heutiges Vorhaben ist das aber der schlechtmöglichste Beginn. Ich atme tief ein und sage mir, dass alles halb so wild wird. Als ich den weißen Truck mit den Rädern am Dach erblicke, wird mir übel. Als mir Ethiel die Erklärung überreicht, dass ich mir sämtlicher Risiken, die ich heute und morgen eingehe, bewusst bin, wird mir gleich noch übler. Höhenkrankheit, Verletzungen, Unfälle. „Das wird lustig!“, sagt John, ein Italo-Amerikaner und grinst mich und den Nomaden-Mann an. Ich überlasse dem Nomaden-Mann das Antworten.
5000 Meter. Cotopaxi am 1. Jänner 2018. Der Coca-Tee hat Wunder gewirkt. Als ich aus dem Truck aussteige, den wir nach einem erfolgreichen Rettungsmanöver aus dem Schnee befreit haben, fühle ich mich schon wesentlich fitter. Ethiel klatscht in die Hände. „Now, who is in?“ Michelle, die zweite Amerikanerin, schaut John an. Beide schütteln den Kopf. Damien, auch Amerikaner aus Singapur, schaut planlos. Der Nomaden-Mann schaut mich an. Ich schaue mich um: Alles um mich herum ist weiß. Die Straße, die Erde, der Himmel, die Luft. Dort, wo eigentlich der zweithöchste Berg Ecuadors sein sollte, sind nur weiße Wolken. Mein Blick folgt der Straße. Matsch. Eis. Schnee. „We are in!“, sage ich, grinse den Nomaden-Mann an und steige auf das Mountainbike. Guess who’s back?
„Schau!“, rufe ich dem Nomaden-Mann zu und verschlucke mich an sich in meinen Mund verirrenden Schneeflocken. Meine Bremsen quietschen zu laut, dafür, dass sie eigentlich kaum bremsen. Ich bleibe stehen und schaue gebannt auf den nur mehr leicht angezuckerten Hügel vor mir. 7 wilde Pferde grasen unbeeindruckt von Wind, Wetter und Radfahrern auf den weiten Flächen des Cotopaxi Nationalparks. Der Nomaden-Mann quietscht sich neben mir ein. Der schwarze Hengst neben uns würdigt ihn keines Blickes.
Wir fahren weiter. Ich rattere über einen Stein. „Auf den Boden schauen!“, höre ich Ethiels Worte und ermahne mich, meinen Blick nicht zu sehr schweifen zu lassen. Ich trete in die Pedale. Bei gefühlt jedem Tritt verändert sich die Landschaft um mich herum: Von weißen Straßen und schneeigen Steilhängen über sanfte, grüne Hügel, auf denen Wildpferde grasen zu weiten, grauen Steinfeldern. Selbst die Erde unter mir ändert ihre Farbe: Weißer Schnee der knirscht, wenn sich die Reifen meines Bikes eingraben. Schwarze Lavasteine, die es zu umfahren gilt. Rote Bäche, die es zu durchqueren gilt. Weiße Moose, die den Boden aussehen lassen, als wären sie Korallen an Land. Grünes, nasses Gras. Als wir unser Mittagessen an einer kleinen Lagune einnehmen, umgeben von grünen Hügel, dem glasklaren Wasser und roten, algigen Farbklecksen, hüpft eine Hasenfamilie hinter den gelben Grasbüscheln hervor und verschwindet dann ganz schnell wieder im dichten Gestrüpp der Andenpflanzen. Ich denke zurück an meine Wanderungen in Patagonien – den Bergen dort, den Wiesen, den Seen. Hier ist alles anders. Und doch genauso wunderschön.
4000 Meter. Hostel in Quilotoa am 1. Jänner 2018. Es ist kalt. Verdammt kalt. Ich spüre, dass mir das Atmen aufgrund der Höhe schwer fällt. Es fühlt sich an, als hätte ich einen Zementsack auf der Brust, den es wegzuatmen gilt. Ich hole dreimal tief Luft und habe das Gefühl, als wäre die Luftmenge, die ich gerade aufgenommen habe, die Hälfte der normalen. Ich ziehe mir die Decke bis unter die Nase. Trotz des kleinen Kamins in der Ecke des Zimmer ist es kalt hier auf 4000 Metern. Ich spüre meine Füße trotz der drei Decken taub vor Kälte werden. Das Duschen war keine gute Idee, denke ich mir. Wenn du dampfst, obwohl du eine extrem kalte Dusche genommen hast, weißt du wieviel kälter als extremkalt es sein muss. „Ahhh“, höre ich es plötzlich und ein Schwall dampfig -warmer Luft kommt aus dem kleinen Badezimmer. „Das war gut!“, sagt der Nomaden-Mann. Ich schaue ihn verwundert an. „War dein Wasser warm?“, frage ich ihn und bekomme große Augen. „Heiß!“, grinst er mich an. „Ernst?“. „Vollster!“ Ich verschwinde unter der Decke. Heute hatte ich Pech beim Heiß-Wasser-Roulette.
3800 Meter. Quilotoa Krater am 2. Jänner 2018. „Kann ja wohl kaum so wild sein!“, sage ich zu John und schaue den steilen Hang zum tiefblauen Kratersee des Vulkans Quilotoa hinab. Der Nomaden-Mann verdreht die Augen. „Schaffen wir!“, ermutige ich ihn und drücke enthusiastisch seine Hand. Mein Kopfweh vom Vortrag ist weg, meine Motivation da. Wir starten los. Der schmale, steile Weg hinunter zum Kratersee ist gesäumt mit wunderschönen Pflanzen – und: Müll. Ethiel erzählt uns über das Müllproblem in Ecuador. Während wir absteigen, sammeln wir einen riesigen Sack voller Flaschen, Essensreste, Süßigkeitenverpackungen, Plastikbecher und sogar Kleidungsstücke ein. Ich erinnere mich an die Stände am Markt von Quito, an denen es Styroporbecher, Plastikbesteck und Plastikgeschirr zu kaufen gibt. Jedes Mal wenn wir in einem Supermarkt einkaufen, versuchen wir der Verkäufern auszureden, ein Plastiksackerl zu verwenden. Jedes Mal wieder werden wir ignoriert. Als wir nach 30 Minuten beim blauen See ankommen, ist der Plastiksack mehr als voll. Ich bin so schockiert von dem Ertrag des Müllsammelns, dass ich fast vergesse die wunderschöne Natur, die hier verschmutzt wird, zu bewundern: Den schmalen Kraterrand, die steilen Kerben der Kraterwände, die Luft, die der aktive Vulkan ablässt und der den See ab und zu zum blubbern bringt. Ich schaue in die Mitte des Sees. 250 Meter tiefes Blau.
Michelle winkt uns als wir losstarten. „See you on the top!“ Oder früher, denke ich mir nach nur zwei Metern Aufstieg. Wieder einmal habe ich die Höhe unterschätzt. Ich schnaufe. Hinter mir glitzert der Kratersee in der Sonne. Vor mir schlängelt sich ein ewig langer Weg bis zum Kraterrand entlang. 30 Minuten Gehzeit steil bergauf fühlt sich bei 4000 Höhenmetern wie 5 Stunden an. Kein Ende des Weges in Sicht. Der Nomaden-Mann hinter mir ist mittlerweile ruhig geworden. Auch John hat aufgehört zu reden. Plötzlich wird es hinter uns laut. „Hi guys“, hören wir Michelle gut gelaunt. Wir drehen uns um. Michelle grinst uns auf ihrem weniger glücklich wirkenden Maultier sitzend entgegen. In nur einer Minute hat sie uns überholt und winkt uns noch mal zurück. Ich schaue ihr und dem tierischen Lift sehnsüchtig nach. „Ich häb’s dir ja gesagt…“, kommt es vom Nomaden-Mann hinter mir. Nächstes Mal!
500 Meter. Tena am 3. Jänner 2018. 6 Stunden Busfahrt mit spanischem Boxerfilm, Süßigkeiten-verkaufenden Mitfahrern und öffentlichen Toiletten-Stopps. Vorbei an kleinen Dörfern, in denen noch immer Silvesterpartys gefeiert werden und das halbe Dorf betrunken auf den Straßen hängt, über die bergigen Anden, bis ins dschungelige Tena. Als ich aus dem Bus aussteige, freue ich mich auf frische Luft. Ich greife meine Daunenjacke und meine Softshelljacke, die in Quito zum Standardrepertoire gehört haben, und zu meinen Rucksack und – werde erschlagen: Von 32 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 81%. Ich atme tief ein und merke, dass ich das erste Mal seit Tagen wieder Luft bekomme. So richtig. Mit einem Mal einatmen. Wenn auch heiße und feuchte. Denn Tena liegt auf nur 580 Metern. In nur 6 Stunden sind wir von 0 auf 30 Grad geklettert und fast 2300 Meter abgestiegen. Ich grinse in mich hinein: Wer kann schon sagen, in den 3 ersten Tagen des neuen Jahres so viel unterschiedliche Temperaturen, Höhen und Landschaften gesehen zu haben? Wir!
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