„Also machen wir das wirklich?“ Ich schaue den Nomaden-Mann skeptisch an, der gerade seinen Rucksack packt. „Sicher!“ Kein bisschen Zweifel in der Stimme. Er grinst sogar. Woher kommt denn nur diese plötzliche Abenteuerlust, frage ich mich. „4 Tage, 3 Nächte in einer Kichwa Community mitten im Amazonas!“ Wiederhole ich Misaels E-Mail, der uns bei der Tourplanung geholfen hat. Der Nomaden-Mann bleibt unbeirrt und stopft das Moskitonetz und den Seidenschlafsack in den Rucksack. „Na dann!“, sage ich aufgeregt und öffne die Tür zum Dschungelabenteuer.
Wie Tarzan & Jane.
„Follow me!“, sagt der schweigsame Wilson mit den gelben Gummistiefeln und steigt aus dem langen Kanu, mit dem er uns durch den kleinen Lagunenarm in eine Dschungel-Einbahnstraße gelotst hat. Als ich aus dem Kanu steige, versinke ich mit meinen Gummistiefeln gänzlich in brauner Erde. „Achtung, matschig!“, warne ich den Nomaden-Mann und ziehe den Fuß mit einem lauten, erdigen Schmatzer begleitet, aus dem schlammigen Dschungelboden. Als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, schaue ich mich um: Grün in allen Farbtönen und Formen. Blätter, Palmenwedel, Lianen, riesige Büsche, hohe Bäume. Neben mir: Farn. Plötzlich höre ich meinen Opa mir von der heilenden Wirkung von Farn erzählen. Ich erinnere mich, dass er mir einmal Farn auf eine Wunde gelegt hat. Ich schaue auf Farnblatt vor mir. Ich könnte mich damit als ganzer einwickeln.
Ich reiße mich aus meinen Erinnerungen. „Weiter!“, sage ich und greife nach dem Nomaden-Mann. Von Wilson sieht man im grünen Dickicht nur mehr die gelben Gummistiefel. Plötzlich raschelt es über uns. Ich schaue in das Ast- und Blattgewirr ober mir. Auch der Nomaden-Mann tut es mir gleich. Angewurzelt wie die Dschungelriesen neben uns stehen wir und schauen in Dickicht. Das Rascheln wird lauter und lauter. Ich schaue nach links. Dann nach rechts. Verwirrt drehe ich mich wie ein Kreisel im Urwald. Nichts. Woher kommt das?, frage ich mich, als plötzlich etwas Braunes über meinem Kopf vorbeihuscht. „Hey Jane“, höre ich plötzlich den Nomaden-Mann neben mir, „Tarzan im Anmarsch!“ Und wirklich, über uns bringt eine Familie Kapazuneraffen das Blattwerk zum Tanzen.
Ich schaue nach vorne. Ein Suchbild aus Grün. Wo ist Wilson? Ich sehe etwas Gelbes durch den Dschungel leuchten. „Hier lang“, lotse ich den Nomaden-Mann. Wilson schaut uns gelangweilt an, als wir aufschließen. „Hungry“, sagt er und deutet auf das grüne Blatt in seiner Hand. Ohne unsere Antwort abzuwarten, knickt er mit einem lauten Knacken das Blatt entzwei und hält es mir unter die Nase. „Schmeckt nach Zitrone!“, sagt er. Das Blatt? Ich schaue genauer hin. Im Hohlraum des Blattinneren tümmeln sich, in weiser Voraussicht panisch, kleine Ameisen. Als eine über Wilson Finger die Flucht nach vorne ergreifen will, saugt er sie flott mit dem Mund ein. Hier im Amazonas wird nichts vergeudet! Ich grinse vor Aufregung. Ameisen standen noch nie auf meinem Speiseplan. Ich schaue den Nomaden-Mann an, der noch skeptisch auf das Gewussel schaut, und greife mir eine kleine Ameise. „Mahlzeit“, sage ich zum Nomaden-Mann und schiebe mir das Tierchen in den Mund. Und wirklich, es schmeckt nach Zitrone.
Die Freiluft Badewanne!
Der Rattern des Bootmotors, welcher uns in einem kleinen Schiffernakel 20 Minuten über die Stromschwellen des Amazonas gelotst hat, bricht stotternd ab. „We are here!“, sagt Wilson, während das kleine Boot in dem drei Hühner, zwei Kichwa Frauen, zwei Kinder, der Kapitän und wir sitzen an den schmalen, schottrigen Uferrand driftet. Während wir aussteigen, bleibt der Rest der Besatzung im Amazonas-Taxi sitzen. Bepackt mit unserem Rucksack, Getränken und einer Kühldose, marschieren wir über den kleinen Strand, durch den Wald und kommen nach einer steilen Dschungelböschung zu drei kleinen Hütten: Eine der Hütten hat halboffene Wände aus Holz, ein Dach aus Stroh und eine offen stehende Tür, durch die man zwei mit Moskitonetzen überhängte am Boden liegende Matratzen sieht. „This is your room.“ Der Nomaden-Mann schluckt. Die zweite Hütte ist winzig, steht umgeben von Bäumen, hat keine Türe, dafür aber ein Wellblechdach. „Toilet!“ Ich ahne schlimmes. Die dritte Hütte ist groß, steht auf Baumstämmen und besteht in der unteren Ebene aus zwei Hängenmatten und einem Tisch mit Bänken. „This is where we eat!“. Während Wilson redet, schaut er auf sein Handy. „Ok, see you for dinner at 7.“ Er sprintet die kleinen Holztreppen in den zweiten Stock des „Wohnzimmers“ hinauf, noch während er spricht. Weg ist Wilson. Ich schaue den Nomaden-Mann an, er mich. „Und jetzt?“ „Duschen!“ Ich zwinkere ihm zu. „Wo willst du denn da bitte duschen?“ Sein Blick wandert von Baum zu Baum, von Hütte zu Hütte, von Regenkübel zu Regenkübel. Ich unterbreche sein Suchbild und nehme ihn bei der Hand. „Wir haben den Amazonas vor der Tür, wer braucht eine Dusche!“
Niala & Almar.
Zwei kleine Augen schauen mich aus der Dunkelheit des Dschungels an und sind plötzlich wieder verschwunden. Ich grinse ins Schwarz. Und da sind sie plötzlich wieder. „Hola!“, sage ich leise in die Dunkelheit. „Hola!“, kommt noch leiser zurück. Ich komme näher und bücke mich zu Almar. Ihr Gewand ist schmutzig vom Toben im Dschungel und ihre kleinen Füße stecken in viel zu großen Cowboystiefeln. Almar ist 9 Jahre alt, hat 8 Geschwister und lebt mit ingesamt 21 ihrer Verwandten in der Kichwa Community neben unseren verlassenen Dschungelhütten, erzählt sie mir, bevor sie davonläuft und mit einem zweiten Augenpaar zurückkommt. „Hello!“, sagt Niala, Almars Freundin, „how are you?“ Sie stemmt ihre Hände in die Kinderhüften und beginnt leise zu kichern. Als Wilson mit einem „Dinner!“ Zu Tisch ruft, sitzen wir zu viert auf den Wurzeln eines Baumes mitten im Dschungel und lernen uns das Zählen in der Kichwa Sprache.
Welcome to our home!
„He asked if you want to come to their house.“ übersetzt Wilson, die Frage von Frank, der mit uns am Tisch sitzt und der Onkel von Almar ist. Er schaut uns über die Kerzen hinweg an. Niala und Almar, die bei uns am Tisch sitzen, nicken eifrig. Ich stimme mit ein und so löschen wir die Kerzen und marschieren 15 Minuten durch den schwarzen Dschungel. Nur der kleine Lichtkegel der Taschenlampe des Nomaden-Manns lässt uns hin und wieder erkennen, worüber wir stolpern und was uns an den Armen kitzelt. Niala läuft barfuß voraus, als das Schwarz plötzlich zur grauen Wand einer Betonhütte wird. Im Inneren flackert elektrisches Licht. Almar winkt aus der Helligkeit der Hütte heraus und so treten wir ein: Ein großer Raum, eine Hängematte, ein kleiner Tisch, eine Holzbank, ein Herd. Almar huscht an mir vorbei in den Raum zu meiner rechten. Ich schaue ihr nach. Ein Loch im Boden, gefüllt mit Holz, eine weitere Holzbank, ein weiterer Tisch aus Holz und 4 Leute. Frank und seine Frau sitzen am Boden, ihr 2-Jähriger krabbelt in einem Fußballdress auf dem Boden herum. Franks Mutter, eine kleine, kerbige Frau grinst mich mit dem freundlichsten, zahnlosesten Lächeln an, dass ich bis jetzt gesehen habe. Sie reicht mir eine kleine Schale mit weißer Flüßigkeit. Chicha, das von den Kichwa Frauen selbst gebraute und durch Spucke fermentierte Dschungelbier. Der Nomaden-Mann schaut skeptisch. „Napaykullayki“, sagt die Zahnlose grinsend. Wilson, der eine größere Schüssel Chicha in Händen hält, schaut mich an: „Welcome to their home!“ Er setzt die Schale an. Ich tue es ihm gleich.
Donner, Wetter,… Blitz!
Ich zucke zusammen und weiß nicht was mir mehr weh tut: mein Magen von den Krämpfen oder die Ohren von den dauernden Donnerschlägen, die unsere offene Hütte zum Beben bringen. Ich drehe mich zum Nomaden-Mann, der bekanntlich der geringste aller Gewitter-Fans ist und ziehe meine, mittlerweile gold-werten Oropax aus den Ohren. Der nächste Donnerschlag kommt vor dem Blitz, der unsere Hütte vollständig ausleuchtet. Die riesige Gottesanbeterin hat ihren Wachposten auf dem Holzbalken über unser nicht verlassen. Ich drehe mich zum erleuchteten Nomaden-Mann. Als ich sein bleiches Gesicht sehe, nehme ich ihn fester in den Arm. Das Bettzeug zwischen uns ist feucht vom vielen Regen, der seit Stunden auf das spärlich schützende Strohdach prescht. Bis in die Morgenstunden zähle ich die Krämpfe, die meinen Körper und jene, die den Boden zum Beben bringen. Als sich die Dunkelheit verzogen hat, winde ich mich nur mehr auf der feuchten Matratze und schleiche alle 15 Minuten – mit Gummistiefel und Regenjacke – auf das bewellblechte stille Örtchen, in dem es weder schützende Wände und Türen, noch fließendes Wasser gibt. Das Donnerwetter geht weiter. Ich krieche wieder in das feuchte Bett und begebe mich wimmernd in die Embryostellung, als plötzlich der Nomaden-Mann in der Tür steht. Als er sich zu mir auf die Matratze setzt, spricht er die erlösenden Worte: „In 30 Minuten kommt das Wassertaxi und dann bringen wir dich zurück ins Hostel.“ Ich seufze und weiß nicht, ob aus Traurigkeit oder Erleichterung. „Und übrigens“, er grinst und zieht ein kleines Weißbrot aus der Jackentasche, „den Geburtstagskuchen holen wir nach. Aber trotzdem: Happy Birthday!“ „Happy?“ Ich verdrehe bespaßt die Augen. „Na zumindest einen, den man nicht so schnell vergisst.“
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