Es wackelt nicht mehr und das laute Brausen ist zu einem leisen Summen geworden. Verwirrt und verschlafen öffne ich meine Augen. „Wo bin ich?“ Ich zwinkere gegen die Sonne und meine Augen suchen wie in einem Suchspiel nach Anhaltspunkten. Wie ein Gummiball hüpft mein Blick vom türkisfarbenen Meer zu den schwarzen Klippen, hinter denen die Mangrovenbäume ihre Wurzeln wir Oktopusse in das Meer strecken. Er hüpft weiter über den gelben Strand, den grünen Hügel hinauf bis zu den Wolken, die wie kleine Fischschuppen den Himmel bedecken. Ich schließe kurz die Augen. 3.2.1. Und mache sie wieder auf. „Kein Zweifel.“, denke ich mir. „Das muss das Paradies sein.“ Ich drehe mich zum Nomaden-Mann, der meiner Verwirrtheit belustigt folgt, um ihm diesen unübersehbaren, geprüften Fakt mitzuteilen. „Wir sind…“, setze ich an und sehe ihn grinsen. „…auf Isla Isabela!“
Sonnengrüße ohne Schattenplätze.
Ich trete in die ausgeborgten Pedale, sodass der Nomaden-Mann hinter mir in einer feinen Staubwolke verschwindet. Nach dem wir bei einer Auffangstation für Schildkröten waren und an Flamingos vorbeigeredet sind, sind wir jetzt am Weg zum Hafen. Ich hole mir das Bild aus meinem Erinnerungsschrank hervor und muss schmunzeln, als vor mir der kleine Steg auftaucht, an dem die paar Fähren ankommen, die nach Isabela fahren. Die Bremsen quietschen. Wir stellen unsere Räder ab. „Komm,“, sage ich zum Nomaden-Mann und nehme seine Hand, „wir setzen uns auf eine der Bänke vorn am Strand.“ Die erste Parkbank in Sichtweite, bleiben wir stehen. „Wohl doch nicht.“, grinst der Nomaden-Mann. Ich schaue ungläubig auf die besetzte Holzbank, die eine perfekte Sicht auf das Meer gehabt hätte und höre ein genervtes Schnaufen. „Vielleicht eine…“ Ich lasse den Blick schweifen. Aber jede der fünf verteilten Parkbänke ist besetzt. „Vielleicht ein Schattenplatz?“, ich nähere mich einem Baum. „Tschuldigung!“, sage ich und mache schnell einen Schritt zurück, als mich die Dicke, die hinter dem Baum auftaucht, anfaucht und ihre Zähne fletscht. Ich schaue zum Nomaden-Mann und hebe resignierend meine Arme. „Alles besetzt“, rufe ich ihm, der einen größeren Sicherheitsabstand bevorzugt, zu. Neben mir knurrt es auf der Parkbank. „Bin ja schon ruhig!“, sage ich zur gähnenden Seelöwen-Dame neben mir. „Bin schon weg!“
„Was ist denn das?“ Der Nomaden-Mann zeigt auf das blaue Wasser. „Wa…?“, setze ich an, als auf einmal etwas schwarzes durch das Wasser schießt. „Hier!“ Sein Finger wandert über das Türkis vor uns, in dem sich zwei schwarze Flecken jagen. Unsere Blicke jagen hinterher. Links, rechts, vor, links. Mir wird schwindelig, als plötzlich einer der Punkte aus dem Wasser taucht. „Pingu…“, beginne ich, als plötzlich der zweite Fleck auf mich zuschwimmt. Ich drehe mich zum Nomaden-Mann um. „Das sind…“ Er nickt mir grinsend zu. „Spielende Pinguine!“ Mein Herz macht einen Sprung – und der Nomaden-Mann auch. Hinter ihm macht sich eine 4-köpfige Seelöwen-Familie schnaufend auf ihren Weg zum Wasser. Mit lautem Geschrei tauchen drei in die Fluten, während einer am Strand überbleibt. Genüsslich, auf seinen kurzen Flossen, streckt er sich der Sonne entgegen. Mein Hirn rattert. „Cobra!“, schießt es mir durch den Kopf und lasse mich neben den braunen Riesen in den warmen Sand nieder, strecke meine Füße von mir, stütze mich auf meine Hände und biege das Kreuz durch. „Das kann ich auch.“ Die braunen Augen schauen mich herausfordernd an. Als der Seelöwe seinen Kopf auf seinen Rücken ablegt, gebe ich auf. Seelöwe 1. Kerstin 0.
Brodelnde Stimmung beim Wandertag.
„Der soll aufhören“, jammere ich, als ich das Geräusch wieder höre. Ich versuche die Gänsehaut und den Ekel abzuschütteln. Die Amerikanerin neben mir grinst und nickt mitfühlend. Ich beschleunige meinen Schritt, als könnte ich den Ekel abhängen und wirble eine rote Staubwolke unter mir auf. „And here’s…“ Wieder spuckt der Chinese nach einem langen, kratzigen Hochziehen, sein Innerstes auf den Boden. Maximo, unser Guide, beginnt von neuem. Ich verdrehe die Augen. Hinter mir beginnt die Kanadierin ihren Dauerschleifen-Satz „In Canada, we have…“ Ich schaue zum Nomaden-Mann, der den Mund auf und zu klappt wie ein gestrandeter Fisch, und muss grinsen. Die komische Gruppe wandert weiter: Der Chinese voraus, die Kanadier dem Guide hinterher. Die Russen rahmen ihre Wanderstöcke am Ende der Wanderkette in den flachen Wegboden. Nach 40 Minuten gehen, markiert ein abgestelltes Motorrad der Polizei das Wegende. Nicht nur die Stimmung in der Wandergruppe, sondern auch der Schildvulkan Sierra Negra brodelt. Seit zwei Tagen sind immer wieder verstärkte Beben zu spüren und die Lavadecke der letzten Eruption 2015 ist bereits um 6 Meter angehoben. Fasziniert schauen der Nomaden-Mann und ich über die weite schwarze Decke Lavagestein, die sich über die Hälfte des Kraters zieht. Auf der anderen Hälfte kämpfen sich grüne Grashalme und Sträucher aus der dunklen Erde und überziehen sie wie Schimmelflecke ein Joghurt. In der Ferne sieht man weiße Rauchsäulen aufsteigen. Maximo erklärt uns, dass der Schildvulkan einer der größten der Welt ist. Er erzählt, dass man jederzeit mit einem Ausbruch rechnet. Dass man hofft, er möge – wie auch 2015 – sanft ausbrechen. Hinter mir gröllt es. Der Nomaden-Mann und ich drehen uns gleichzeitig um. Der Chinese kratzt lautstark den letzten Rest aus dem Rachen und befördert ihn wie heiße Lava auf den Boden vor uns. Ich schaue von der Spucke auf zum Nomaden-Mann. „Machen wir, dass wir hier wegkommen, bevor der explodiert!“
Zwei starke chicas!
„Look“, sagt John, mit dem wir seit einer halben Stunde über die schwarzen Bögen und Steinwege der „Los Tuneles“ wandern. „Look“, höre ich nochmals. Erst jetzt reiße ich meinen Blick vom in Lavastein eingefassten grün-türkis schimmernden Naturpool, in dem zwei Schildkröten gleiten, los. Ich schaue auf und sehe sie bereits in der Ferne unter einem grünen Busch hervorleuchten: Ein kräftiges Blau, dass ich bisher nur von der Ferne gesehen habe. Ich stupse den Nomaden-Mann neben mir an. „Look!“, wiederhole ich John’s Stimme und schleiche langsam, wie eine Katze auf der Pirsch, zu dem Strauch unter dem das lebendige Wahrzeichen der Galapagosinseln sitzt: Der Blaufußtöpel. Ganz ruhig trabt er in unsere Richtung. Seine blauen Füße im Kontrast zu den schwarzen Lavasteinen. „Ein Weibchen“, sagt John und deutet zuerst auf die zwei weißen Eier unter dem Strauch und dann auf seine Augen. „Bigger eyes than the man!“ Die schwarzen Pupillen suchen den Himmel ab, als plötzlich ein zweiter „Blue footed Boobie“ vom Himmel gleitet. Augenblicklich beginnt das Geschnatter. Sie plustert sich auf. Schnattert. Das blaufüßige, schmächtige Männchen schnattert zurück. Sie bäumt sich auf. Er streckt den Hals. Sie marschiert zu ihm, schnattert ihn an, hebt den Kopf über seinen. Und plötzlich: Ist es ruhig. Erhobenen Hauptes marschiert die Blaufuß-Dame an ihrem Gatten vorbei, der sich mit gesenktem Kopf zu seinem Kinderdienst auf den noch beschalten Nachwuchs setzt und leise vor sich hinschnattert, als würde er fluchen. Ich grinse den Nomaden-Mann an und zwinkere. „Das passiert, wenn Mann zu spät kommt!“
„Don’t be a chica.“, höre ich John vor mir sagen, als er Marco, den jungen Schweizer, in die Tiefe drückt. „Don’t move to fast“, schiebt er nach, doch Marcos Körper liegt bereits zur Gänze in der Höhle und hat den nicht ganz unwichtigen Nachsatz sicher nicht mehr gehört. Seine Flossen klatschen panisch auf das Wasser vor der Höhle. Aus dem Schnorchel, der leise an der Höhlendecke scharbt, klingt ein lautes Gegurgel. Marco tritt nun ins Wasser, als würde er einen Marathon laufen wollen. Ich tauche meinen Kopf unter Wasser und sehe wie John ihn gekonnt am Fußgelenk packt und aus der Höhle zieht. Als sein Kopf wieder aus dem Wasser taucht, ist er bleich. „Was ist drinnen?“ „Haie“ sagt er, als John gerade den Nomaden-Mann unter Wasser drückt. Die Fußbewegungen sind langsam. „Don’t be a chica.“ Murmelt John wieder, als sich die Fußbewegungen des Nomaden-Manns beschleunigen. Ich tauche wieder unter und sehe wie er mit den Armen zurückrudert. John versteht das Zeichen und zieht ihn zurück. „Und?“, frage ich, als mich John bereits am Kopf packt. Ich drücke dagegen und höre noch ein „Viele…“ bevor mein Kopf unter Wasser getaucht wird und in der Höhle wie eine Luftblase wieder aufschwimmt. Ich hole tief Luft und treibe im Wasser, als ich sie plötzlich sehe: Sie liegen am Boden. Mein Puls wird schneller. Ich beginne zu zählen. 1.2.3.4.5.6.7. Ab 8 beginnt der Zeitpunkt, an dem ich meinen Füßen aktiv befehlen muss, sich nicht aus Panik zu bewegen. „Ruhig!“, ermahne ich mich und sauge leise Luft ein, als hätte ich Angst, sie könnten mich hören. Neben mir bewegt sich plötzlich etwas. „Langsam!“, sage ich in mich und verstehe es meinen Kopf herumzureißen und in die andere Ecke der Höhle zu starren. Die Bewegungen seitlich von mir werden immer stärker. Erst als ich die Wellen schon spüre, sehe ich auch deren Grund: Drei 2 Meter lange Riffhaie schwimmen direkt auf mich zu. 2 Meter. Die schwarzen Augen und die weiße Flossenspitze leuchten im Dunklen der Höhle. 1,5 Meter. Ich reiße die Augen auf. Nicht zwinkern. Nicht atmen. Er schwimmt weiter. 1 Meter. In meinem Kopf beginnt die Musik aus „Der weiße Haie“ zu spielen, als der graue Hai nur mehr eine Armlänge von mir entfernt ist. Ich schließe die Augen, als ich plötzlich ein Rauschen um mich höre und Johns Hand um meinen Fuß spüre. Zwei Sekunden später bin ich wieder bei den anderen. Ich reiße meinen Kopf aus dem Wasser und spucke den Schnorchel ohne Worte aus. John grinst mich an, als wäre das genau die Reaktion, die er erwartet hat. Fas zeremoniell hebt er seine Hand. Ich schaue ihn fragend an. „High five, mutige chica!“
„P“ wie Paradies!
„Das war’s!“. Ich nippe an meinem Mojito und lasse meinen Blick & meine Sinne schweifen: Auf den schwarzen Steinen sitzen unzählige Echsen und strecken ihre Köpfe in den Sonnenuntergang. Kleine, leuchtend rote Krabben huschen über die schwarzen Steine. Ich sehe den schwarzen Fregattvogel, wie er am orangenen Himmel entlangsegelt, wie bei einem Schattenspiel. Ich höre das Klackern der kleinen Eisberge in meinem Glas, den Reggeaton aus den Boxen der Bar, das Schnattern der Albatrosse, das Rauschen der Wellen. Ich spüre die Sonne auf meiner Haut, spüre den Sand zwischen meinen Zehen, der mich seit wir hier angekommen sind begleitet und die Hand meines Nomaden-Manns in meiner. Langsam schließe ich die Augen und stelle mir vor, wie ich langsam zum Schrank meiner Erinnerungen gehe. Ein alter, riesiger Holzschrank – so einen wie ich ihn immer haben mochte. Langsam ziehe ich die beiden Türen auf, hinter denen sich tausende schöne Erinnerungen, akribisch sortiert und abgespeichert wie in einem Karteisystem, befinden: S – wie Spanien mit dem Nomaden-Mann. S – wie Schwesternurlaub mit der besten Nomaden-Schwester. S – Südtirol, meine Drittheimat. Ich blättere weiter. T – wie Tel Aviv mit meiner besten Freundin. Bei P stoppe ich, um eine neue Erinnerung hinzuzufügen: Es ist ein kleines Polaroid Bild mit genau diesem Moment. Dem Cocktail, dem Sonnenuntergang, dem Nomaden-Mann. Ich schiebe die Karte zwischen viele andere Erinnerungen. „P“ wie Paradies.
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