Kurz bevor ich in den Flieger steige, bleibe ich abrupt stehen. Wieder ein Abschied, schießt es mir durch den Kopf. Ich schaue auf den Spalt zwischen dem Flugzeug und dem Gatezubringer, auf den grauen Beton unter mir. Ecuador war eine spannende Erfahrung, eine Reise mit zahlreichen Gegensätzen – egal ob Wetter, Natur, Menschen und Gefühle. Innerhalb von nur wenigen Stunden habe ich mich in Ecuador verliebt und habe es wieder gehasst, hat es mich mit 19 Grad empfangen, auf 0 Grad heruntergekühlt und auf über 30 Grad erhitzt, hat es mich vitalisiert und erschöpft zugleich. Nach über einem Monat in diesem Land wird es aber jetzt Zeit weiterzuziehen. Zeremoniell setzte ich den Fuß in den Flieger und murmle ein leises „Tschüss Ecuador“. In weniger als zwei Stunden beginnt ein neuer Abschnitt der Reise, einer auf den ich mich schon so lange gefreut habe.
Hallo Kolumbien, Hallo Nomaden-Schwester.
Ich schaue auf mein Handy. 20 Uhr 20. Mein Herz macht einen dreifachen Salto. Schnell schaue ich mich am Ausgang beim internationalen Gate um, entdecke aber nur Sam, meinen Sitznachbarn & Plauderpartner aus dem Flugzeug. Er winkt mir zu und marschiert weiter in Richtung Transferflug nach Kanada. Ich beschleunige meinen Schritt, der fast mit meinem erhöhten Pulsschlag mithalten kann. In meinem Bauch feiern tausend Schmetterlinge eine Party. Als ich um die Ecke biege, sehe ich sie… eine ewig lange Menschenschlange an den Migrationsschaltern. Wieder schaue ich auf mein Handy. 20 Uhr 23 und zerdrücke es vor Aufregung fast. Sie ist seit fast einer Stunde hier. Wieder schaue ich zu den mindestens 5 Kurven Menschen vor mir. Nervös lasse ich meinen Blick schweifen und entdecke hinter der Glasscheibe neben mir die Gepäckshalle. „Warte bei der Gepäcksausgabe.“, habe ich ihr geschrieben. „Bis sie mich wegtragen.“ war die Antwort. Mein Gehirn und meine Augen schalten in den Suchmodus: Groß, blond, dünn, großer Rucksack. Mein Gehirn scannt Koffer, dicker Mann mit Hut, Familie mit zwei Kindern, altes grauhaariges Ehepaar, Rucksacktouristin – falscher Alarm, dunkelhaarig – und ein paar herumstehende Sicherheitsbeamte. „Mist“ denke ich mir, als ich plötzlich meinen Namen höre, von einer Stimme, die ich so sehr vermisst habe und schon seit 24 Jahren zu meinen absoluten Lieblingsstimmen gehört. Ich reiße meinen Kopf herum. Mein Blick rennt durch die Reihen und nur wenige Sekunden später renne ich ihm nach. Unter den Absperrbändern durch. An den wartenden Menschen vorbei. Bis ich sie endlich in den Armen habe: groß, blond, dünn, müde und mit denselben Freudentränen in den Augen. Willkommen Nomaden-Schwester und Hallo Kolumbien!
Bogota, Machos und ein bisschen Kokain.
„Ready for Bogota?“ Ich schaue die Nomaden-Schwester an und grinse. In ihren Augen erkenne ich das gleiche aufgeregte Flimmern, wie ich es von mir kenne. Sie nickt und öffnet die Türe unseres Hostels, welches sich direkt in Candaleria, im Zentrum von Bogota, befindet. Draußen ist es bereits dunkel, doch die Gassen rund um unser Hostel sind noch belebt. „It’s safe until 11 and in areas with people around.“, höre ich die Rezeptionistin mahnen. Ich fische mein Handy aus der Bauchtasche, die mir für das „gefährliche“ und „hässliche“ Bogota empfohlen wurde. Seit Monaten trage ich keine Uhr mehr, denn hier in Südamerika spielen die Minuten keine Rolle und meine „europäische Uhrzeitfixierung“ bringt hier nur Ungeduld & geschwächte Nerven. 22 Uhr 15 sagt das Display. „45 Minuten Bogota bei Nacht“, sage ich an, hacke mich bei der Nomaden-Schwester ein und ziehe sie in die dunklen Straßen von Bogota. Die niedrigen Häuser sind nur schwach beleuchtet. Trotzdem kann ich durch die Dunkelheit Farben sehen. Weiß mit rot, gelb mit orange, blau mit weiß, hellgrün mit dunkelgrün. Ich steige über einen vollen Müllsack, der auf dem Gehweg liegt. Zwischen den bunten Fassaden und den kleinen, gusseisernen Balkonen, springen mich auf einmal drei eindimensionale Caballeros mit Ponchos und Hüten an. Daneben lehnen zwei dreidimensionale Neuzeit-Caballeros mit Sportkappen und Silberkettchen. Ihre Blicke hängen wie festgeklebt an unseren blonden Haaren. „Lindas!“, höre ich sie in unsere Richtung zwitschern. „Son gringas.“, schießt die kleine Kolumbianerin neben dem Kappen-Caballero den Vogel mit ihrem Ellenbogen ab. Während sich schon der nächste Blick an unsere Fersen heftet und uns ein weiterer Mund Küsse zuwirft, die wir unbeachtet am Straßenrand liegen lassen, kommt uns der nächste Kolumbianer entgegen. „Pssst…“ Ich schaue die Nomaden-Schwester an, die sich bereits mit einer Empanada in der Hand auf unser südamerikanisches Abenteuer einstimmt und erwarte die nächste Anmache. Doch statt dem erwarteten Küsschen, bekommen wir was anderes angeboten: „Cocaine?“ Ich schüttle grinsend den Kopf. Die Nomaden-Schwester schaut dem schwarzen Schatten ebenso belustigt nach. Als wir uns anschauen, sind wir uns einig: Zahlreiche Blicke, zehn Küsse, drei Graffitis, ein ausgelöster Beziehungsstreit, eine Empanada, ein erster Eindruck der Stadt und ein bisschen Kokain sind genug für 45 Minuten. Gute Nacht, Bogota.
Justin & sein Hamster.
„Wisst ihr, warum man Justin Bieber mögen muss?“, fragt Ana, unser Streetart Guide. Ich bekomme große Augen. „Justin Bieber mögen?“ Wir sitzen in einem Park am Hang des Hausberges hinter Bogota. Neben uns höre ich die Rollen der Skateboards über den bunten Beton der Halfpipe kratzen. Zwei Kolumbianer haben am Fußballfeld – beobachtet von einem riesigen Elch mit einem goldenen Kopf auf der gegenüberliegenden Hauswand – eine Slackline gespannt. Ich schaue mich um: Jedes noch so kleine Stück Wand ist bunt. Jede freie Fläche ist die Leinwand eines der über 6000 Graffitis von Bogota. „In diesem Park“, fängt Ana an und bringt meine Gedanken wieder zu Justin, „wurde vor ein paar Jahren ein junger Graffitikünstler von der Polizei erschossen.“ Ich versuche zu kombinieren, bleibe aber planlos, wie das mit Justin zusammenhängen könnte. „Während vor ein paar Jahren Justin Bieber nach einem seiner Konzerte in Bogota von der Polizei geschützt ein Hanfblatt und seinen kürzlich verstorbene Hamster an eine Wand gesprayt hat.“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch, wo das doch noch ein Grund weniger ist um den Bieber mögen. „Doch seitdem hat sich etwas verändert“ erklärt Ana weiter, „Die Graffiti Künstler wollten das so nicht auf sich sitzen lassen. Sie wussten: Nachdem die Polizei Justin Bieber beim sprayen beschützt hat, konnte man auch ihnen kein illegales Verhalten vorwerfen.“ Ein Ahhh geht durch die Reihen von Anas Zuhörern. „Seit dem boomt Graffiti in Bogota und wird auch von der Regierung gefördert.“ Ich denke zurück an die riesigen, bunten Kunstwerke, an denen wir in den letzten Stunden vorbeispaziert sind. Kunstwerke, die tagelange und oft wochenlange Arbeit sind. Kunstwerke, die mehrere Stockwerke Mauerwerk zieren. Die in detailgenauer und riskanter Handarbeit gemacht wurden. Kunstwerke, die Straßenschilder miteinbeziehen und optische Illusionen schaffen. Kunstwerke, die sich zwischen modernen Hochhäusern und den kleinen Gassen der Altstadt verstecken. „Ich war ja schon immer ein Belieber“, grinst die Nomaden-Schwester. „Na soweit würde ich jetzt nicht gehen“, sage ich und blicke auf die bunten Treppen, die farbigen Mauern und grellen Muster vor mir, „aber trotzdem: Danke, Justin!“
Schreibe einen Kommentar