Ich drücke unterbewusst meinen Rucksack an mich, als vor dem stehenden Taxifenster ein Gesicht erscheint. Meine Muskeln spannen sich an und meine Fantasie schickt mir Bilder von eingeschlagenen Autoscheiben, Taschenmessern an Kehlen und aufgeschlitzten Rucksäcken. Bananenchips. Stopp. Bananenchips? Der alte Mann vor der Scheibe grinst mich freundlich an und wackelt mit der Chipstüte vor meiner Nase herum. Meine Muskeln entspannen sich und ich sinke wie eine Luftburg in mir zusammen. Die Nomaden-Schwester – selbsternannte „Sicherheitsbeauftragte“, die ihre große Schwester von waghalsigen Abenteuern abhalten soll – schaut still fragend in meine Richtung: Cali, 10. gefährlichste Stadt der Welt. Ob das nicht zuviel für uns ist?
Die Stadt, die sich nicht bemüht.
Ich ziehe kräftig an dem Strohhalm und sauge die weiße, schaumige und ein bisschen nach Senf schmeckende Flüssigkeit ein. Die Nomaden-Schwester räuspert sich. Ihre Augen sind mahnende Schlitze. „Du kannst es auch nicht lassen, gell?“ Ich ziehe den Strohhalm aus dem Mund und reiche ihr lächelnd den Plastikbecher. „Und?“, fragt Joe, der Guide unserer Free Walking Tour und schaut mich mit großen Augen an. „Goooooood!“ Ich versuche das Gesicht nicht allzusehr zu verziehen. Das fermentierte „Ponche“ schmeckt nicht viel besser als jenes Chicha Bier, welches mich im Amazonas 3 Tage Bettruhe gekostet hat.
„Übrigens: Hier“, sagt Joe plötzlich und schwenkt seine Hand einmal im Kreis, „ist ab 18 Uhr für euch tabu.“ Ich schaue mich um: Hoch zum Himmel ragenden Palmen, gestapelte Betonblöcke neben einem kleinen, sich versteckten Kolonialbau umzingeln die vielen Menschen, die unmotiviert auf den Parkbänken hängen. Ich schaue auf mein Handy: 17:05. Ich spüre, wie sich in meinen Bauch die Ameisen versammeln, wie immer wenn ich mit etwas konfrontiert bin, was ich eigentlich nicht machen sollte. „Sobald es dunkel wird, ist hier das Cali, dass ihr nicht kennenlernen wollt.“ Ich halte die Luft an. 1-2 Tötungsdelikte am Tag gibt es in Cali. Die meisten davon in den umliegenden Gebieten oder Randbezirken.
Wir marschieren weiter. Vorbei an riesigen, grauen Betonklötzen, über den Platz der Poeten, an dem Juristen, Steuerberater und Buchhalter unter bunten Sonnenschirmen an Schreibmaschinen sitzen und ihre Leistungen zu günstigen Preisen der doch recht armen Bevölkerung von Cali anbieten. Weiter durch den Park, in denen schmutzige, dünne Gestalten unter dem Schatten der Bäume liegen und Schuhputzer ihre Stände aufbauen. Vorbei an der einzigen Sehenswürdigkeit der Stadt – einer kleinen, blauen Kirche inmitten der unmotivierten, trostlosen City. Vorbei an den Apotheken, die das Medellin Kartell in die Luft gesprengt hat – im Kampf gegen die Regierung, die Polizei, das Cali Kartell und all ihre Gegner. Vorbei an Gebäuden, aus denen Regierungsmitglieder entführt und verschleppt wurden. Vorbei an einer Stadt, die sich nicht verstellen will. Die schmutzig ist, rau, ehrlich und unmotiviert. Vorbei an einer Stadt, die keinen Wert auf Äußerlichkeiten, auf schöne Gebäude, imposante Sehenswürdigkeiten oder Touristenattraktionen legt. Vorbei an einem Graffiti, welches die Stadt und seine Menschen nicht besser beschreiben könnte. Jodito perocon tento. Fucked but happy. Das ist Cali.
Der Dämon von Cali.
Die Luft ist so feucht, dass sich auch ohne Anstrengung bereits eine feuchte Schicht auf meiner Stirn gebildet hat. Ich schaue nach oben: Vor uns türmt sich der Cerro de las tres Cruces auf – der „Hausberg“ hinter Cali, der den Namen von den drei weißen Kreuzen bekommen hat, die den bösen Dämon Calis im Inneren des Berges halten sollen. „Die gehen alle runter!“, unterbricht die sicherheitsbeauftragte Nomaden-Schwester meine Gedanken und deutet auf die nicht abreißende Schlange uns entgegenkommender Wanderer, die sich den Berg hinunterschlängelt. Ich fische mein Handy aus meinem Sport-BH und checke die Uhrzeit: 9:30 Uhr. „It is not safe when the police is leaving“, höre ich die Rezeptionistin unseres Hostels sagen. „Make sure to be there before 12.“ Ich schaue mich um. Keine Polizisten weit und breit. „Theoretisch…“, beginne ich und weiß bereits, dass ich hier mit Theorien nicht weit kommen werde. Ich lasse den Satz unvollendet in der heißen Luft hängen.
Wieder checke ich mein Handy. 10 Uhr 30. Die Menschenschlange hat sich in der aufsteigenden Mittagshitze verkrochen. Seit einer halben Stunde wandern wir alleine den Berg hinauf. Skeptisch schaue ich zu den drei Kreuzen weit über uns. Es könnte eine Stunde dauern – oder zwei. Oder drei. In meinem Kopf spiele ich die Szenarien durch: Umdrehen – um sicher zu gehen. Weitergehen – und ein Risiko einzugehen. Umdrehen – und etwas verpassen. Weitergehen – und nichts verpassen. „Vielleicht…“ Ich stoppe meinen Satz, als ich zwei Polizisten am Wegrand sehe. „… sollte ich mal fragen!“, ändere ich die Richtung meines Satzes und meines Weges. Ist es sicher raufzugehen? Wann sollten wir wieder absteigen? Bis wann ist der Weg bewacht? Die spanischen Sätze kommen aus meinen Mund, als hätte ich sie die letzte Stunde schon in meinem Kopf bereit gelegt gehabt. „It’s safe. 30 minutes to the top. We will be here until 15pm. You can go. You have beautiful eyes“, grinst mich der Polizist, sichtlich stolz auf sein Englisch, an. Zumindest einiges davon ist gut zu wissen.
30 Minuten später sinken wir auf den staubigen Boden. Die drei Kreuze hinter uns haben sich keinen Zentimeter näher an uns bewegt und doch sind wir durch die kleinen Wälder, über steile Wege, vorbei an trockenen Büschen, dem weißen Himmel etwas näher gekommen. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und schaue auf das weite Grau vor mir. Die Betonblöcke von Cali, die Straßen, auf denen jeden Tag Menschen umkommen, die Wolken am Horizont verschwimmen vor mir zu einem einzigen Grau. Grau. Auch das ist Cali.
Heiß. Heißer. Salsa Caleno.
Ich wische über meine nasse Stirn und bleibe stehen. Es ist heiß. „Come on.“, höre ich eine mahnende Männerstimme. Ich beschleunige meinen Schritt wieder. Vor, zurück, vor, zurück. Meine Zehen tippen auf den Boden. Jeder Tipp verursacht einen kleinen Blitzeinschlag in meinem Körper, der sich wie ein nervöses Kribbeln von der Zehe bis zu meinem Scheitel zieht. „Cross.“ Der Befehl mischt sich unter die Klänge, die aus den Boxen zu mir herüberschwappen, wie Wellen. Mit einer massiven Wucht rollen die Töne über mich hinweg. Immer schneller, immer wilder, immer lauter – bis ich das Gefühl habe in den Klängen unterzugehen. Meine Füße strampeln um ihr Leben. „Der Salsa hier ist schneller als irgendwo auf dieser Welt.“, höre ich Joe sagen. Ein DJ – ein Anfängerfehler – eine zu schnell aufgelegte Platte – die Geburtsstunde vom Salsa Caleno. Meine Gedanken lenken mich ab. Verwirrt schaue ich zu meinen Füßen, die ein Eigenleben führen und wild durch die Gegend zappeln. Ich konzentriere mich: Seitlich, kreuzen, seitlich. Und von vorne. Ich versuche mit dem Tempo der Musik mitzuhalten. Mein Herzschlag gleicht sich den Beats der Musik an. Meine Füße versuchen mitzuhalten. Mein Blick wandert von den Füßen vor mir, die Beine des Tanzlehrers hinauf und bleibt hängen: Seine Hüften kreisen in perfekten Zirkeln, heben und senken sich. Es wird heißer. Ich komme aus dem Takt und stolpere über meine eigenen Füße. Mein Blick klebt sich wieder an die Füße vor mir um Sicherheit zu finden. „Suzy Q now“ Ich versuche, es den Hüften vor mir nachzumachen, die sich wie eine Schraube rauf und nieder schrauben, während die dazugehörigen Füße leicht übereinandersteigen. Ich scheitere kläglich. Die Musik wird leiser. Als die letzte Welle verebbt, dreht sich Jorge, unser Salsalehrer, mit einer ballettartigen Drehung und einem Schmunzeln im Gesicht um. „Ladies, hier in Cali haben wir nicht viel. Aber wir haben ihn und er ist genug!“ Er meint den schnellen, lebensfrohen, lebensbejahenden, wilden, leidenschaftlichen Salsa Caleno. Denn neben all dem Schlechtem, all dem Gefährlichen, all der Armut und Gewalt ist vorallem er Cali.
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