„Where am I from?“, fragt Caro in die Runde. Sie schüttelt absichtlich ihren Kopf, sodass ihr langer, geflochtener und knallorangener Zopf um sie wirbelt. Die Augen der „Gringos“, wie man uns Ausländer hier in Kolumbien nennt, mustern die große, ziemlich hellhäutige, rothaarige Frau vor uns. „States?“, ruft ein Amerikaner. „Netherlands!“. „Ireland!“ Caro schüttelt belustigt den Kopf und grinst wie ein Honigkuchenpferd in die Gruppe. „100% Medellin!“, sagt sie dann stolz und stampft mit dem Fuß, wie Rumpelstilzchen vor dem Feuer. „Guys, this is what a Paisa looks like!“ Ich schaue mich auf dem kleinen Platz in der Altstadt um und sehe was Caro meint: Anders als in anderen Teilen Kolumbiens sieht man hier zwischen all den dunkelhaarigen und dunkelhäutigeren Menschen auch Blonde, Rothaarige, Blauäugige. Innerlich feiern meine Gedanken gerade eine Party, denn, so spinnt sich mein Gehirn zusammen, so heißt das vielleicht: Zwei blonde, blauäugige „Chicas“ fallen hier nicht so auf wie im Rest von Kolumbien, wo es bisher Gang und Gäbe war, uns mit neugierigen Blicken, Pfiffen und Kussmündern zu bedecken.“Hey Gringas!“, höre ich plötzlich von der Seite. Der Straßenverkäufer schnalzt mit der Zunge, als würde er ein Pferd antreiben wollen. Die Party endet abrupt.
Vom Vergessen.
Caros Blick verändert sich, als wir auf den kleinen Platz vor der Metrostation kommen. Die Lachfalten sind plötzlich ausgebügelt und ihre Augen wirken nicht mehr wie davor strahlend grün, sondern wie ein alles verschluckendes Moor. „Do you know where we are standing right now?“ 20 Köpfe inspizieren den unscheinbar ausschauenden Platz unter dem Betonbalkon, der der Aufgang zur ersten U-Bahnlinie Kolumbiens ist. „No problem“, erklärt sie den fragend dreinschauenden Gesichtern, „we colombians don’t know it either!“ Ihre Stimme wird leise, als sie uns von der Granate erzählt, die vor ein paar Jahren auf diesem Balkon platziert wurde und einigen Menschen das Leben kostete. Keine Gedenktafel, kein Mahnmal. Nichts markiert den Ort. Nichts erinnert an die Kämpfe, die in dieser schwer belasteten Stadt gefochten wurden. An den Drogenkrieg. Die Kartelle. Entführungen. Explosionen. Anschläge. Bandenkriege. An das ganze Blut, welches diese Straßen auf denen wir heute wandern, getränkt haben. Mir wird kalt. „Wusstet ihr, dass es in unseren Schulen keinen Geschichtsunterricht gibt?“, fragt Caro in die Runde. Sie lächelt, ich möchte weinen.
Wir marschieren weiter. Ein neuer Platz, eine ähnliche Geschichte. Caro deutet auf zwei am Rande des Platzes stehende Figuren des Künstlers Botero, die man hier in der ganzen Stadt verteilt sieht. Die unproportionalen Formen, die viel zu kleinen Köpfe und aufgeblasenen Körper, sind auffällig. Meine Augen zoomen die kupferfarbenen Skulpturen näher, als sich rote Haare in mein Sichtfeld schieben. Wieder flüstert sie. „Der verwundete Vogel“, sagt sie, „ist das einzige Mahnmal dieser Stadt“ und leitet mit der Hand unsere Blicke zu Figur. Die Figuren gleichen sich wie Zwillinge, nur dass einer der Vögel durchlöchert ist, während sein gesunder Bruder prall aufgeplustert neben ihm steht. Der verwundete Vogel, erzählt Caro, ist das einzige Denkmal Medellins. Es erinnert an eine Bombe, die hier 1995 auf dem Platz, direkt unter dem Vogel gezündet wurde und durch die zahlreiche Menschen umgekommen sind. Botero wollte sein Werk nicht einfach austauschen. So tun, als wäre nie etwas geschehen. Und ließ stattdessen den Brudervogel aufstellen. Als Zeichen des Friedens. Der durchlöcherte, verbrannte, verformte und gefallene Bruder blieb stehen. Als Mahnmal. Als Erinnerung. Ich schaue mich um. Der Platz ist leer. Denn keiner will sich erinnern.
Vergangenheit & Gegenwart.
Caro fährt herum und faucht den jungen Mann mit der Kartonbox voller Zuckerl an. „Ich rufe die Polizei“, schreit sie ihm nach, als er schon hinter dem nächsten Baum verschwunden ist. Die Zuckerlbox versteckt er wie eine wertvolle Schatztruhe unter seiner Jacke. Ich blicke verwirrt.
Der nächste Tag. Wir stehen bei einem weißen Haus, 3 Etagen, Balkone, ein Pool, ein Tennisplatz, eine Satellitenantenne. Ich denke an die Häuser, die in Miami Beach stehen und die ähnlich ausschauen: Schick, hell, protzig und weiß, wie Koks. Hier vor diesem Haus begann vor gar nicht allzu langer Zeit der Krieg der Kartelle, als dort eine feindliche Bombe hochging und die Familie des, dank Netflix, berühmtesten Drogenbosses der Welt bedrohte. „Narco Style Houses“, höre ich Dan sagen. So habe das Medellin-Kartell ihr Drogengeld gewaschen: Mit dem Bau und der Vermietung von Immobilien an die Bevölkerung. „Ein Grund, warum dir manche Kolumbianer sagen werden, dass Pablo ein guter Mann war.“ Paisa Robin Hood. Anders als Caro spricht Dan seinen Namen aus: Pablo Escobar: Sohn einer Lehrerin und eines Security Beamten, Familienvater, Kopf des Medellin-Kartells, 1983 7. reichster Mensch der Welt, Kongressabgeordneter, Mörder, Drogenboss und Terrorist.
Der Tag davor. „Cocaine?“, flüstert der Mann und zwinkert mir zu. Ich höre nicht hin und bahne meinen Weg durch die Menschenmenge. „Cocaine?“, sagt er nun lauter. Vor mir dreht sich ein junger Mann um und lächelt. Ich schüttle den Kopf und gehe weiter.
Der nächste Tag. Er ist anders als die Friedhöfe in Südamerika, die ich bisher gesehen habe. Die Grabsteine sind unscheinbare Steinplatten, die im Gras versinken. Keine Kerzen, kaum Blumen. Bis auf ein Grab. Umringt von Tannen steht es nahe der Kirche. Die schwarzen Steinplatten mit dem eingravierten Namen glänzen und sind umringt von weißen Kieselsteinen. Sträuße von weißen, blauen und roten Nelken. Ein junger Mann grinst in die Kamera seines Freundes, während er hinter dem Grabstein von Pablo Escobar steht. Mein Magen dreht sich einmal im Uhrzeigersinn und landet wie ein Stein wieder an seinem Platz. Ich bin selbst Tourist und stehe hier. Interessiere mich für die Geschichte dieses Mannes, der sein Land so geprägt und verändert hat. Ich habe lange gehadert, ob ich diese Tour machen soll. Ob es falsch ist mehr wissen zu wollen, als mir Netflix verkauft. Unf ich habe mich entschieden. Für die Tour. Für mehr Wissen. Für die Geschichte. Aber gegen Fotos. Meine Kamera ist im Hostel. Mein Handy in der Tasche. Als der junge Mann genug posiert hat, verlässt er das Grab. Ein alter Mann eilt mit Besen und Schaufel heran und beginnt den Grabstein abzukehren. Behutsam sortiert er die Blumen neu. Er wird von Escobars Familie bezahlt. Er bekommt so wenig, dass er nebenbei Wasser an Touristen verkauft.
Der Tag davor. Ich schaue auf die Hausordnung im Hostel. Punkt 4: Drogen jeglicher Art sind in diesem Hostel strengstens untersagt. Ich schmunzle und denke an den Joint, den sich die Burschen aus Zimmer 4 hier in aller Seelenruhe gedreht haben. Als wir zum Frühstück gehen, hängt der Geruch von Marihuana noch immer in den Gängen. Beim Frühstück zähle ich nach, wie oft uns gestern Koks angeboten wurde. Ich brauche zwei Hände.
Der nächste Tag. Wir stehen vor dem unscheinbaren Haus, auf dessen Dach Pablo Escobar gestorben ist. Drei Schüsse sagt die Polizeiakte. Dan reicht uns Kopien der Originalfotos. Ich schließe die Augen. Kein Einschuss am Fuß sichtbar, sagt Dan ins Dunkle meines Sichtfeldes hinein. Es gibt unzählige Theorien, wer Pablo erschossen hat: das Cali-Kartell, die die Macht von Escobar – zu dessen Bestzeiten 80% der Drogen in Amerika aus seinem Handel stammten – übernehmen wollten, die Regierung, die Escobar als Bedrohung sah und andere verfeindete Banden. Wie in einer Powerpointpräsentation spulen sich die Zahlen in meinem Kopf ab: 1991: 550 getötete Polizisten, 1989: 100 Bombenattentate, Entführung eines Flugzeuges, 1990: 85 Bomben in Apotheken des Cali-Kartells. Allein von 1988 bis 1993 verzeichnete man täglich 20 Tote, alle zwei Tage einen Anschlag. „Noch heute ist es lukrativer man baut Drogen an, als Kaffee oder Mais“, unterbricht Dan meine Gedanken und reicht mir einen Zettel mit noch mehr Zahlen. Ich schlucke.
Der Tag davor. 60% reines Kokain kostet in Kolumbien 5 Dollar. In Australien wird genau die gleiche Grammmenge und Reinheit für 400 Euro verkauft. Das weiße Geschäft boomt nach wie vor. Nur diesmal ist es kein Pablo Escobar, der schicke Autos fährt, Häuser baut, sich einen Zoo mit Giraffen und Nilpferde anlegt und sich als Kongressabgeordneter Immunität verschafft. Heute sind es die Baby Narcos, die normale Autos fahren, ihre Frauen schön ausführen aber sie nicht übertrieben beschenken, die in die gleiche fancy Rooftopbar gehen wie ich gestern und ihre Gin dort schlürfen, die dann nach Hause in ihre normalen Wohnungen fahren und ihr normales Leben weiterleben. Nur, dass sie irgendwann einen Anruf kriegen, von ihren Jungs auf der Straße, die Koks und chemische Drogen als Süßigkeiten unter die Kinder bringen.
Die Farben der Hoffnung.
Hubschrauber, die über den glänzenden Blechdächern der an den Hang gedrängten Hütten stehen. Das Getrommel von Maschinengewehren, die in den Händen der Guerillasoldaten liegen. Blut, welches statt Wasser in den Gräben der engen Gassen verläuft. Als ich aus dem Taxi steige, verschwinden die Bilder und Klänge der Gewalt und des Krieges. Stattdessen stehe ich mitten in einer Welt aus Farben. Schon am unteren Teil des ehemals gefährlichsten Viertels Medellin, verzieren bunte Graffiti die Wände der noch immer sehr ärmlich wirkenden Hütten. Trotzdem ist San Javier weit entfernt von den Bildern der Vergangenheit. Ich blicke zu den Rolltreppen, die das schwer zugängliche Viertel am Hang erst vor kurzen zugänglich gemacht haben und spüre, wie mein Herz zu klopfen beginnt.
Die Rolltreppe endet und schiebt uns mitten in das ehemalige Problemviertel Medellins. Am kleinen Balkon stehend, von dem aus man die engen Gassen und die vielen Hütten überblicken kann, beobachte ich das Treiben auf den Gassen: Statt dem Trommel von Maschinengewehren hört man heute lauten Rap, Reggeaton oder Hip Hop aus den mobilen Boxen cooler Jungs rauschen. Ein junger Mann dreht seinen Körper auf dem Kopf stehend im Kreis, als plötzlich ein kleiner Junge zu ihm kommt und sich zu ihm auf den Boden legt. Mit neugierigen Blicken versucht er die Figuren des Breakdancers nachzumachen, als dieser plötzlich innehält und dem 4-jährigen Spiegelbild unter die Arme greift. Mein Blick wandert weiter und trifft auf zwei auf den Mauern sitzende, alte Männer mit Hut. Ich frage mich, ob sie ihr Viertel von früher überhaupt noch wiedererkennen? Zwei kleine Mädchen mit geflochtenen Zöpfen rollen mit jeweils einem Rollschuh an durch die Gassen. Am Ende der kleinen Anhöhe stoppen die zwei, gehen – sich immer an den Händen haltend – in die Knie, heben ihren unberollschuhten Fuß vom Boden und rollen einbeinig und laut kreischend durch die Comuna 13.
Lange wandern wir durch das Viertel, vorbei an bunten Wandmalereien, die von der Vergangenheit erzählen. Die Sonne brennt auf den Asphalt und mein Mund fühlt sich an wie eine Wüste. Als wir unter einem bunten Sonnenschirm Platz nehmen und eine Zuckerrohrlimonade bestellen, kommt der junge Kellner nicht nur mit einem Krug sondern mit Fotos zu unserem Tisch. Fotos der Comuna 13. Der Vergangenheit – mit Gewalt, Waffen und Zerstörung. Und der Gegenwart – mit bunten Häusern, Graffitis und den neu erbauten Rolltreppen. Mein Blick wandert von der papierenen Gegenwart zur realen. Alles hier ist so voller Farbe, voller Freude, so voller Zusammenhalt, Gemeinschaft, voller Vergangenheit und trotzdem voller Hoffnung. Und plötzlich merke ich, dass es genau das ist, was die Comuna 13 so anders macht als den Rest von Medellín: Die Comuna 13 hat nicht vergessen wer sie ist. Und sie will es auch nicht. Und genau das ist gut so. Denn vielleicht ist auch dass der Grund, weshalb sie niemals mehr so werden möchte, wie sie.
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