Wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch immer die grellen Farben, höre die laute Musik und rieche die Mischung aus Bier, Sonnencreme und Schweiß, die in der Luft lag. Der Karneval in Barranquilla war lärmend, bunt und voller neuer Eindrücke. Ich öffne die Augen und lasse meinen Blick ziehen. Über mir nur blau. Klares, helles Himmelblau. Und das seit Stunden. Ich habe ganz vergessen, wie schön es sein kann, einfach mal nichts zu sehen, was meine vollste Aufmerksamkeit erfordert. Was es wert wäre, fotografiert zu werden. Oder auch nur irgendeine geistige Leistung von mir verlangt. Seit zwei Tagen bin ich mit der Nomaden-Schwester in Santa Marta an der Karibikküste Kolumbiens und gönne mir eine Pause vom Erleben. Ich liege in der Sonne, plantsche im Pool, welches zumindest einen Blick auf eine der Sehenswürdigkeiten von Santa Marta hat, und verarbeite meine bisherigen Reiseerlebnisse. Iran, Bali, Spanien, Argentinien, Chile, Ecuador, Kolumbien. Tausende Bilder, Gefühle, Momente und Eindrücke schreien seit Monaten in mir um die Wette. Und jeden Tag kommen neue dazu, wollen mitreden. Santa Marta war ein lautes „Stopp“ an mich selber. Ich wackle belustigt mit den Zehen. Sie kribbeln schon wieder.
Halb und halb ist eben nur fast ganz.
„Ready, girls?“ Obwohl ich die Stimme nur kurz gehört habe, wirkt sie vertraut und bekannt. Ich drehe mich um. Adam, ein Amerikaner, den wir in Salento beim Frühstück kennengelernt haben, grinst uns an. Seinen Rollkoffer, von dem er uns gestern Abend bei einem Bier erzählt hat und der ihm mittlerweile bei mir 100 von 100 Pluspunkten einbringt, hat er in seinem Hostel gelassen. Ich blicke genervt auf meinen prall gefüllten Rucksack und zucke, an unsere gestrige Diskussion über Backpacker & ihre Eigenheiten denkend, entschuldigend die Schultern. „Ready!“ sage ich und hieve die rote Tonne auf meinen Rücken und in den Kleintransporter, der uns nach Minca bringen soll. 45 Minuten später beneide ich Adam schon wieder, der seinen handlichen Rucksack über die Schultern wirft, während ich 1/3 meines Körpergewichtes auf meine Schultern wuchte und schnaufe. Voll und leicht beladen stapfen wir ins selbe Hostel. Als die Rezeptionistin Adam seinen Schlafsaal zeigt und uns vorher noch den Schlüssel für unser Doppelzimmer in die Hand drückt, zuckt er mit den Schultern. Zusammen sind wir dann ja fast „richtige Backpacker“.
Warum?
Mein Kopf fühlt sich an als würde er jede Minute explodieren. Ich presse die Augen zusammen. Das Salz meiner Haut brennt in der Mittagssonne auf meinem Gesicht. Ich schaue mich um: Zwischen den grünen Lianen, den hohen Palmen und dem dichten Urwald-Gestrüpp leuchten mir zwei rote Punkte entgegen. Einer vor mir. Einer knapp hinter mir. Es hat 30 Grad und mein Mund gleicht einem pelzigen Teppich. „Who’s idea was that?“, sagt der leicht rot leuchtende Punkt vor mir. Adam, der jeden Tag in Kolumbien trainieren geht, grinst von seinem Mountainbike. „Nicht meine“, sagt die schnaufende Nomaden-Schwester und schiebt ihr Rad den Steilhang neben mir hoch. Ich lächle unschuldig mit Tendenz zur Verzweiflung und schaue auf den weiter ansteigenden Dschungelpfad vor uns, der uns eigentlich zu Mincas Wasserfällen führen sollte. Ich schließe die Augen. Warum schießt es mir plötzlich durch den hochroten Kopf, tu ich mir das eigentlich alles an?
Ich wache auf. In dem Zimmer mit Blechdach hat es bereits früh morgens die Temperatur wie in einem vollaufgeheizten Backrohr. Doch irgendwas ist heute noch komisch. Langsam greife ich zur Bettdecke und ziehe die Decke zurück, als würde unter ihr ein Monster lauern. Ich erstarre und schaue mit einem Blick des Entsetzens auf meine Beine. 1,2,3,4… Ich beginne zu zählen. Gefühlte 5 Minuten später stoppe ich bei Nr. 72. Mit meinen Fingernägeln scharre ich an der Bettdecke, um den Drang zu stoppen, mir jeden einzelnen der eben gezählten 72 Moskitostiche aufzukratzen. Und wieder ist er da. Der Moment, an dem man sich fragt, warum man nicht einfach zu Hause im kalten, moskitolosen Wien auf dem Sofa sitzt?
Ich schaue auf mein Handy. Kurz nach 16 Uhr. Seit 2 Stunden marschieren wir über steile Dschungelwege, huschen von einer Schattenseite zur anderen und kommen dem Ziel kaum näher. Als ich vom Handydisplay aufschaue, ist vor uns noch immer genauso viel Berg wie vor 20 Minuten oder einer Stunde. Ich widerstehe, wie schon die Stunden davor, meinem Drang, einfach umzudrehen und die Wanderung zur Casa Elemento abzubrechen. Warum auch, frage ich mich wieder. Für die vielen coolen Backpacker, die mit ihrer Flasche Bier, ihren Schlabberhosen und zu viel Coolness für so viel hitzige Temperaturen, die Hängematten belagern, wegen denen man diese Wanderung in Kauf nimmt? Ich schüttle den Kopf über dieses Bild. Und gerade, als sich das große Wort wieder seinen Weg in meine Gedanken bahnt, bekomme ich die Antwort.
Darum!
Ein leises Rauschen gesellt sich zum Rauschen meines Blutes, welches durch meinen erhitzten Körper gepumpt wird. Ich lehne das Rad an den kleinen Erdhügel und wische mir den Schweiß aus den Augen. Immer dem Rauschen nach, sagt mein Kopf meinen müden Beinen, die sich sofort in Bewegung setzen und gelbe Erde aufwirbeln. Mit jedem Schritt wird das Rauschen lauter. Und lauter und lauter. Und plötzlich sehe ich ihn. In all dem Grün, umgeben von dichtem Dschungel: Ein Strahl klares Wasser gleitet die steinige Wand herunter und mündet in einem kleinen Naturpool. Die Nachmittagssonne lässt das Wasser golden schimmern. Als ich meine Zehen in das erfrischend Wasser stecke, weiß ich: Darum.
Plötzlich ist es laut. Ich schaue die Nomaden-Schwester an. Sie mich. Ich Adam. „What’s that?“, beendet Adam das Blick-Ping-Pong und schaut in den grünen Wald. Ein raues Brüllen kommt aus dem grün-braunen Dickicht. Ich zucke mit den Schultern und schließe die Augen, in der falschen Annahme, dann noch genauer zu hören. Nach einer kurzen Stille beginnt das laute Brüllen wieder. Die Äste in der Ferne rascheln. Ich schaue die Nomaden-Schwester und amtierende Sicherheitsbeauftragte an und zwinkere. „Sicher nicht!“, schüttelt sie den Kopf, ohne dass ich die Frage stellen muss. Ich stampfe los und marschiere schnurstracks in den Wald. Adam hinterher. Das Brüllen endet wieder. Und beginnt kurz darauf von neuem. Es hallt durch den ganzen Wald. In der Ferne sehe ich plötzlich die Blätter eines Baumes wackeln. Adam dreht sich zu mir um: „Is it…?“ „Ein Brüllaffe.“ Wir grinsen uns an. Genau darum!
Ich spüre wie die kleinen, kalten Wassertropfen der Aguila Dose auf meinen Fingern tropfen. Meine nackten Füße baumeln in der abkühlenden Abendluft. Neben mir sitzt Adam. Seine Bierdose hat einen roten Kreis auf seiner Hose hinterlassen. Auf meiner anderen Seite sitzt die Nomaden-Schwester mit ihrem Cola in der Hand. Ich schaue in die Ferne: Vor uns erstreckt sich eine weite grüne Hügellandschaft, die langsam im grauen Santa Marta verschwindet, dann in das schimmernde Blau des Meeres übergeht und sich im Himmel verliert. Die Hängematte über dem Nichts vor uns wird von Backpackern aus aller Herren Ländern okkupiert, die seit Stunden hier „abhängen“. Mein Blick zieht über die Leinenhosen, Mandala Tattoos und Anmachsprüche hinweg zu dem roten Ball am Himmel, der langsam alles in ein friedliches leicht glitzerndes Licht taucht. Ich nehme einen Schluck vom kalten Bier. Alle gegangenen Kilometer, alle geschwitzten Liter, alle erstrampelten Höhenmeter, alle Moskitostiche, alle Backpacker-Abneigung ist plötzlich vergessen. Warum tu ich mir das alles an, frage ich mich, im Stillen, um mir dann die so nahliegende Antwort selbst zu geben. Ich grinse unseren neuen amerikanischen Freund und die Nomaden-Schwester an, hebe das Bier und sage: „Auf Momente wie diesen!“
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