Es ruckelt. Ich beiße die Zähne zusammen. In der Ferne sehe ich schon die nächsten Steinberge aus dem staubigen Boden ragen. Ich spüre, wie mir der Schweiß an den Armen hinunterläuft und auf meine schmerzenden Oberschenkel tropft, auf denen das Lenkrad auf der einen und der Sattel auf der anderen Seite bereits einen Abdruck hinterlassen haben. Ein neuer Stein. Ich ziehe die Luft zwischen den zusammengebissenen Zähnen durch. Mein rechter Oberarm brennt, als würde man ein Feuerzeug dagegen halten. Bei jedem Stein, über das das schwarze Moped fährt, dreht sich das Rad des Mountainsbikes, welches auf meinem Schoß quer über mir liegt und schabt ein Stückchen Haut von meinem Arm. Ich drehe mich um. Die Nomaden-Schwester am Moped hinter mir, klammert sich unentspannt an ihr Rad. In der Ferne sehe ich noch immer den Bikeladen von Luis in Minca.
Umsatteln!
Negro bremst und ich lockere meine Hände, die ganz verkrampft um seinen dünnen Körper geschlungen waren. „Pausa?“, frage ich. „Si“, nickt er in das Gurgeln des zweiten Mopeds hinein, welches die Nomadenschwester neben mir ablädt. Als ich vom Moped steige, zittern meine Füße. Ich schaue mich um. Am Wegrand steht auf einem grünen Schild die weiße Zahl 7. Hat Luis nicht gemeint, dass es 18 Kilometer bis zum Gipfel sind? Ich drehe mich zu den beiden Fahrer um nachzufragen, doch Negro und der andere junge Mopedfahrer sind gerade in einer hitzige Diskussion: „Noch mehr als die Hälfte – wird noch steiniger – dauert zu lang – andere Variante.“ Ich schaue die Nomadenschwester – entsetzt von dem Gedanken noch mehr als die Hälfte der Strecke so verbringen zu müssen – an. Sie grinst und hat zum Glück keine Ahnung was uns bevorsteht. „Die meinen, sie suchen jetzt eine andere Lösung weil es so zu lange dauert…“, fasse ich zusammen, als plötzlich neben mir bereits an der Umsetzung gearbeitet wird: Während Negro mit einem Seil anmarschiert, hat der andere Kolumbianer bereits unsere Räder auseinandergenommen. Dann wird geschlichtet, geknotet und gezurrt. „Listo?“, fragt Negro nach wenigen Minuten und schaut mich und die Nomaden-Schwester an, während sein Kollege und unsere Räder schon davonrattern. Ich schaue dem Moped nach, schaue auf die enge Sitzfläche, die für mich und die Nomaden-Schwester reichen muss – und den holprigen Pfad vor uns. „Bringen wir es hinter uns.“
Haben wir denn eine Schraube locker?
Als wären meine Gebete erhört geworden, bremst Negro nach eineinhalb Stunden Schleudergang. Ich spüre jeden Knochen meines Körpers, als ich – wie schon ungewollte zweimal davor – vom Moped rutsche. Augenblicklich beginnen meine Zähne zu klappern. Erst jetzt, nach dem das Adrenalin der abenteuerlichen Mopedfahrt langsam abgebaut ist, realisiere ich die Kälte, die sich unter den dicken, grauen Wolken, denen wir nun ein ordentliches Stück näher sind, gebildet hat. „Oy“, höre ich es hinter mir und reiße meinen Blick vom, sich vor mir erstreckenden Panorama: Ein Rad liegt bereits wieder zusammengebaut am Boden, während das andere wie eine zerstückelte Leiche am nassen Gras verteilt liegt. Negro läuft mit gesenktem Blick vom Rad – zum Moped – zu dem Pfad, von dem wir gekommen sind und wieder zurück. Sein Blick klebt auf dem Boden. Auch unser zweiter Fahrer läuft angestrengt blickend und mit gesenktem Kopf um das verteilte Rad. 5 Minuten vergehen. „Was machen die denn da?“, fragt die Nomaden-Schwester in die Kälte. Noch bevor ich ihr eine Antwort geben kann, marschiert Negro zu seinem Moped, beginnt eine Schraube aus der Blende zu drehen und stampft zurück zum Rad. Mit einem stolzen Grinsen dreht er mit der Mopedschraube das Vorderrad meines Rades fest. Die Antwort verpufft augenblicklich in meinem Kopf. Und eine neue Frage taucht auf: „Haben die denn eine Schraube locker?“
(Es) Reicht.
„Heute sind zu viele Menschen gekommen…“, sagt der alte Mann mit den freundlichen Augen. Er grinst mich an. Zwei Belgier, zwei Amerikaner, zwei Deutsche, zwei Kolumbianerinnen, eine Spanierin und ein Franzose, die unter dem Vordach des Holzverschlags stehen, schauen die Nomaden-Schwester und mich an. Ich zucke entschuldigend die Schultern und schaue mich um: Der mit einem Wellblech überdachte Platz ist Küche und Outdoor-Wohnzimmer in einem. Eine kleine Spüle, ein Tisch, Holzstämme zum Sitzen. Aus dem kleinen Ofen züngelt das Feuer. Eine Suppe brutzelt auf ihm stehend vor sich hin. Die Toilette ist ein dunkler Wandschrank ohne Türe, lediglich eine dünne Spanplatte lehnt an der Wand als provisorischer Sichtschutz bei Geschäften. Ich spüre, wie die 1,72 große Nomaden-Schwester neben mir immer kleiner wird. Mein Blick flieht in eines der „Zimmer“: erdiger Boden, löchrige und oben offene Wände und schmale Kinderbetten, auf denen bereits überall Rucksäcke liegen. In meinem Kopf sehe ich die Nomaden-Schwester und mich in der Dunkelheit den Berg mit den provisorisch reparierten Bike hinunterfahren, als der alte Mann plötzlich in ein Zimmer deutet: „Ein Bett reicht?“ Ich schaue die Nomaden-Schwester an, deren Gesichtszüge angespannt sind wie Drahtseile und nicke. „Reicht.“
Ich spüre die Eisenstange des Bettgestells durch die dünne Matratze direkt auf meiner Rippe. Es fühlt sich an, als würde ich auf einem Bett aus Eis liegen. Wie in Zeitlupe versuche ich mich zu drehen, ohne die Kälte unter die vier Schichten Decke und 3 Schichten Kleidung eindringen zu lassen. Erfolglos. Meine aus einem T-Shirt gebundene Haube rutscht mir vom Kopf. Ich schnaufe und freue mich über die warme Atemluft, die über mein kaltes Gesicht zieht. Es muss circa 3 Uhr sein, schießt es mir durch den Kopf. In einer halben Stunde läutet der Wecker. Frustriert schließe ich die Augen, als es plötzlich neben mir raschelt. Die Nomaden-Schwester, die im selben kleinen Bett liegt, streckt ihren Kopf aus dem blauen Seidenschlafsack, unter dem sie sich die letzten 4 Stunden versteckt hat. „Reicht das an Schlaf?“, fragt sie mit klappernden Zähnen in die Dunkelheit. „Reicht.“
Zwischen Himmel & Wolken!
Als wir ankommen, ist der Himmel schwarz. Nur Millionen von Sternen, die uns auf unserem einstündigen Weg hierher begleitet haben, glitzern wie kleine Diamanten über uns. Und genau dort, wo gestern Abend die Wellen des karibischen Meeres an die Küste gelaufen sind, ist heute ein blass-lila Wolkenmeer, welches sich flauschig über die schlafenden Küstenstädte zieht, während die Sonne hinter den Bergen der Sierra Nevada ihre Stellung bezieht, um den Tag einzuläuten. Ich weiß, dass in wenigen Minuten all unsere nächtlichen Wegbegleiter verschwunden sein werden und die Welt wieder anders aussehen wird – greller, lauter, unruhiger. Schweigend schaue ich in den Himmel und verabschiede nicht nur den schönsten Sternenhimmel meiner Reise, sondern auch die Nacht. Denn am Horizont wird das Schwarz bereits zu einem dunklen Blau. Zu einem Violett. Zu einem blassen Lila. Und schließlich zu einem strahlenden Hellblau. Während sich die Farben der Welt ändern, ist um mich alles leise. Langsam und tonlos ziehe ich, am kalten Grasboden am Gipfel des Cerro Kennedy sitzend, meine Füße an meinen Körper und erkenne ein Gefühl in mir wieder: Ich fühle mich winzig und gerade deshalb so frei. Als wäre ich Nichts & könnte Alles – zwischen Himmel und Wolken.
Genug Abenteuer!
Meine Finger zittern. Meine Füße zittern. Meine Arme zittern. Konzentriert suche ich den Wegrand nach der nächsten Kilometeranzeige ab, während ich dem nächsten Steinloch ausweiche. Links – mit Steinplatte und Sand? Oder rechts vorbei – viele kleine Steine? Ich entscheide mich für links. Das Hinterrad meines Mountainbikes rutscht über die glatte Steinplatte. Meine Finger verkrampfen während dem Bremsen. Erst als der Gummi wieder den staubigen Sandboden berührt, wird meine Mühe belohnt. Die Bremsen greifen. Das Rad, welches seit heute Morgen um 8 Uhr auch wieder von einer Rad- und keiner Mopedschraube zusammengehalten wird, steht. Erschöpft steige ich ab. Die Nomaden-Schwester erzeugt eine Staubwolke neben mir, als sie zum Stehen kommt. Genervt schüttle ich meine Hände aus, die von der zweistündigen Fahrt bereits steif sind. Die Blase an meinem Daumen ist aufgesprungen und etwas Feuchtes rinnt über meinen Handrücken. In meinem Kopf zitiere ich den Chatverlauf mit Luis, dem Besitzer des Bikestores: Downhill. Einfach zu fahren. Ungefähr 2 Stunden. Total lustig. 1 von 4. Ein typisch kolumbianischer Schnitt. Ich schließe die Augen und massiere geistesabwesend meine Handballen. Warum brauche ich auch immer Action. Warum immer Abenteuer? Warum suche ich immer wieder meine Grenzen? Als ich die Augen öffne, liegt das Rad mahnend zu meinen Füßen. „Na gut, bringen wir es hinter uns…“
Mein Herz macht einen Sprung, als ich das blaue Schild sehe. „Zwei!“, schreie ich zur Nomaden-Schwester nach hinten, die die Markierung ebenfalls entdeckt hat und schneller als zuvor in die Pedale tritt. Seit über 3 Stunden sitzen wir auf den Rädern, weichen mit vollster Konzentration den Steinen aus und versuchen nach 3 Stürzen pro Person einfach nur schnell und heil wieder in Minca anzukommen. Meine letzten Kräfte sammelnd trete ich in die Pedale, als ich plötzlich Luis Bikeshop auftauchen sehe. Die Schmerzen in meinen Fingern, Armen und Beinen sind plötzlich weg. Nur mehr der Gedanke, es bald hinter mir zu haben, ist ganz groß in meinem Kopf. Luis wartet bereits grinsend auf uns, um die Räder in Empfang zu nehmen. Als ich ihm das Rad in die Hand drücke, bin ich augenblicklich tausend Kilo leichter. Ich seufze und falle ich der Nomaden-Schwester erschöpft, erleichtert und zitternd um den Hals. Diese grinst belehrend. „Und?“ fragt sie: „War das jetzt genug Abenteuer?“ Genug Abenteuer, beteure ich.
Fürs Erste.
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